Ein unbeobachtetes Getränk während der Disko wurde Marie (23) zum Verhängnis. Nach einem Blackout durch K.-o.-Tropfen wachte sie in der Klinik auf. Querschnittsgelähmt. Aber die Leipzigerin hadert nicht mit ihrem Schicksal. Sie nimmt es an und wird sogar Mutter.
Wenn Marie mit ihrer gut einjährigen Tochter im Rollstuhl unterwegs ist, macht sie die skurrilsten Erfahrungen. „Als ich Juna noch im Tragetuch hatte, dachten viele, ich schleppe eine Puppe mit mir rum“, erzählt die junge Sächsin. Heute sitzt das kleine Mädchen auf ihrem Schoß, gesichert mit einem Schal. Aber auch in dieser Situation schlägt der selbstbewussten Mutter eher Skepsis als Bewunderung entgegen. „Ich werde beispielsweise gefragt, wo denn mein Pfleger sei oder wem das Kind eigentlich gehört.“ Nach außen hin schmunzelt Marie über die Vorurteile. Doch in ihrem Inneren wünscht sie sich, endlich als ganz normale Mutter akzeptiert zu werden. Die Tochter ist ihr ganz großes Glück im Unglück, das an einem Freitag, dem 13. begann.
Rückblick: An dem nasskalten Tag im Dezember 2013 fährt die damals 18-Jährige mit dem Fahrrad zur Disko. Marie genießt das Leben in der Großstadt. Das Mädchen wuchs ganz behütet im beschaulichen Riesa auf. Nun steht es in Leipzig auf eigenen Füßen, hat gerade das Fachabitur Sozialwesen in der Tasche. Marie träumt davon, Erzieherin zu werden. In ihrer Freizeit trainiert sie mehrmals in der Woche Wassersport. Tanzen ist die zweite große Leidenschaft. Marie bestellt sich ein Getränk und denkt sich nichts dabei, als sie es einen Moment unbeobachtet stehen lässt. Dann trinkt sie es aus und geht. Filmriss.
Über eine Stunde liegt das hübsche Mädchen betäubt zusammengekauert bei null Grad an einer belebten Kreuzung im Leipziger Westen. Niemand kommt auf die Idee, zu helfen. Erst ein Philosophieprofessor erkennt den Ernst der Situation und ruft den Notarzt. Minutenlang versuchen die Mediziner verzweifelt, Marie zu reanimieren. Es gelingt. Danach legen sie die Schwerkranke wochenlang in ein künstliches Koma. Weihnachten sitzen die Eltern verzweifelt am Krankenbett ihrer einzigen Tochter und klammern sich an jedes noch so kleine Fünkchen Hoffnung …
„Als ich aufwachte, begriff ich erst einmal nichts, quälte mich mit Halluzinationen herum“, erinnert sich Marie. „Und, meine Beine fühlten sich taub an.“ Kurze Zeit später wurde Marie mit der Diagnose Querschnittslähmung konfrontiert. „Ich habe sie damals gar nicht so richtig begriffen, sondern freute mich eher, am Leben zu sein“, denkt Marie zurück. Was genau an jenem Abend passierte, konnte nicht mehr rekonstruiert werden. Fest steht, dass Ärzte Spuren von K.-o.-Tropfen nachwiesen. Der mutmaßliche Täter wurde zwar gefasst, „doch endete der Prozess mit einem Freispruch, weil man dem Mann die Tat nicht hundertprozentig nachweisen konnte“, schüttelt das Opfer noch heute darüber den Kopf.
Rund ein Jahr wurde Marie in Krankenhäusern und Rehaeinrichtungen behandelt. Ihr sportlicher Ehrgeiz von einst kam ihr dabei zugute und half ihr, langsam wieder ins Leben zurückzukehren. Im Januar 2015 wagte sie den Neuanfang. Sie bezog eine eigene kleine Wohnung und verliebte sich. Im Sommer des vergangenen Jahres erblickte Tochter Juna das Licht der Welt. „Die Geburt per Kaiserschnitt war zwar nicht so ganz unkompliziert, aber ich bin es ja gewohnt, zu kämpfen“, meint Marie schmunzelnd. Weil der Partner meistens auf Montage arbeitet, bestreiten Mutter und Tochter den Alltag oft allein. Und dabei lässt Marie ihr munteres Mädchen niemals unbeobachtet. Denn die Leipzigerin ging einmal durch die Hölle, nur weil sie für ein paar Augenblicke unaufmerksam war …
Thomas Gillmeister