Zukunftsforscher Michael Carl in seinem Signature-Look, bestehend aus schwarzer Hornbrille und weißem Hemd. Sein Anliegen ist es, die Zukunft ins Gespräch zu bringen. Denn: „Wenn wir kein gemeinsames Bild davon haben, dann fällt es uns umso schwerer, für die eigene Zukunft tätig zu werden.“ Foto: privat

Leipzig. Michael Carl hat ein Anliegen: die Zukunft. „Mein Thema gieße ich in jede erdenkliche Form, die mir einfällt – Hauptsache ist, dass wir die Zukunft ins Gespräch bringen“, sagt er leidenschaftlich. Und dafür gibt es einen guten Grund: Carl ist Zukunftsforscher von Beruf. Dieser Tätigkeit geht er in dem eigens in Leipzig gegründeten „Carl Institute for human Future“ nach. Sein Institut widmet sich der Zukunft des Menschen in den Lebens- und Arbeitswelten der kommenden Jahre. Doch wie genau sieht Carls Arbeit aus und wie wird man eigentlich Zukunftsforscher? Um dies zu beantworten, lohnt sich zunächst ein Blick in die Vergangenheit des Wahlleipzigers.

Michael Carl wird 1968 in Hamburg geboren. In der Stadt wächst er auch auf. Seine Mutter arbeitet als Kirchenmusikerin. Darum war die Kirche in seinem Alltag präsent. „Ich bin da so reingewachsen und habe auch schon als Teenager Aufgaben, wie Jugendreisen ins Ausland, für meine Gemeinde organisiert“, erinnert er sich. „Schon damals lagen mir solche Tätigkeiten. Unabhängig zu arbeiten macht mir einfach Spaß.“ Nach der Schule studiert der junge Mann Evangelische Theologie mit dem Ziel, später einmal Pfarrer zu werden. Seine Studienzeit verbringt er zum Teil in Hamburg, aber auch in Frankfurt am Main sowie in Schottlands Hauptstadt Edinburgh.

„Ich hatte aber schon einige Zeit mit dem Journalismus geliebäugelt“, so Carl. Nach seinem Examen bekommt er nicht gleich eine Stelle als Pfarrer. Und so fasst er 1996 den folgenreichen Plan, die Wartezeit mit einem Radiovolontariat zu überbrücken. Anschließend stieg er bei MDR Sputnik in Halle ein. Dass Carl ein Macher ist, spricht sich auch beim Mitteldeutschen Rundfunk herum. Und als im Jahr 2000 der neue Sender MDR JUMP ins Leben gerufen wird, ist er Teil des „Startteams“, wie er es nennt. Ich habe die inhaltliche Ausrichtung mit gestaltet. Spannend zu entwerfen, in der Umsetzung dann mir aber zu einförmig. Darum zog ich nach Berlin und wechselte zu Radio 1“, erzählt der heute 53-Jährige.

2003 fusionieren die Berliner und Brandenburgischen Sender zu einem – dem Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb). Dort bleibt Carls Talent, das große Ganze im Blick zu behalten, nicht unentdeckt: Die Hörfunkdirektorin bietet ihm die Stelle eines Referenten an. „Ich war ein gehobenes Mädchen für alles“, scherzt Carl, „und ich beschäftigte mich mit den Fragen von Management. Zu meinen Aufgaben gehörte die Arbeit in Projektgruppen, Gremien, dem Rundfunkrat. Ich war beteiligt bei Tarifverhandlungen und bei der Entwicklung des Radioprogramms beim rbb.“

2008 reformiert sich der rbb, um sich für die digitale Zeit fit zu machen. Carl bekommt den Auftrag, ein „Strategiebüro“ aufzubauen. Bei dieser Arbeit stand die Frage im Zentrum: „Wie werden aus Radio- und Fernsehleuten einmal Multimedialeute? Mobiles Internet war damals noch etwas Seltsames in der traditionellen Hörfunkwelt. Doch dann, in den Jahren darauf, blieb kein Stein auf dem anderen!“ Carl sieht in dieser beruflichen Etappe aus heutiger Sicht einen „Schlüsselmomen“. Seine Arbeit findet mehr und mehr Anklang und er erhält auch externe Anfragen für Strategieberatungen, darunter von anderen Medienunternehmen. Er geht nebenbei in die Selbstständigkeit und absolviert ab 2013 außerdem eine zweijährige Weiterbildung in Systemischer Organisationsentwicklung.

Damals fällt Carl auf, dass die Führungskräfte oft unrealistische Vorstellungen von der Entwicklung ihrer Unternehmen haben: „Man kann sich tolle Sachen ausdenken, aber wichtiger ist, wie sich das Umfeld der Unternehmen und die Kundenbedürfnisse verändern, oder die technologische Entwicklung.“ Carls berufliche Erfahrungen führen ihn mehr und mehr zu den Fragen der Zukunft und nach Leipzig. Ein ehemaliger Kollege aus der Sputnik-Zeit, der mittlerweile ein Zukunftsforschungsinstitut gegründet hatte, bittet Carl, Teil des Teams zu werden.

Michael Carl wird, was sich jahrelang angebahnt hat: Zukunftsforscher. 2015 zieht er in die Messestadt und baut im Institut seines Kollegen die Forschungsabteilung auf. „Unser Job hat viel mit qualitativer Sozialforschung zu tun“, erklärt er, „in dieser Phase haben wir viele Studien für verschiedene Branchen durchgeführt und veröffentlicht.“ Diese Erhebungen seien die Grundlage, auf denen für die Auftraggeber mögliche Zukunftsszenarien oder Prognosen gezeichnet werden können.

Carl veranschaulicht dies am Beispiel der Automobilbranche. Die zentrale Frage sei: Wie sieht die Branche in Zukunft aus? Gibt es noch Autos und werden sie zum Mietobjekt? Wird autonomes Fahren die Normalität? „Wir Zukunftsforscher können abschätzen, was wahrscheinlich ist“, so Carl. Es zeichne sich heute schon ab, wer die Branche bald prägen werde und die technologische Entwicklung antreibe, wie etwa Tesla und einige chinesische Hersteller. Auf der Basis solcher Analysen entwickelt und plant der Zukunftsforscher mit dem Konzern X die Rolle, die das Unternehmen dereinst in der Branche innehaben könnte.

„Meine Lieblingskunden sind übrigens die, denen es gut geht, die aber Zweifel an der eigenen Zukunft haben“, sagt der Zukunftsforscher. Es sei besser aus der Position der Stärke heraus zu agieren. Unternehmen, denen es schlecht geht, hätten dagegen kaum eine Chance, die Zukunft für sich zum Guten zu gestalten, so Carl weiter. Wie nah beides zusammenliegen kann, erklärt er an einem weiteren Beispiel: „Nehmen wir doch die Firma Nokia. Das Unternehmen war viele Jahre Marktführer. Die wussten nicht, wohin mit ihrem ganzen Geld. Aber als das iPhone kam, war das das Ende für sie.“

2018 schließlich gründet Michael Carl sein eigenes Zukunftsforschungsinstitut, um seine Vorstellungen beruflich besser ausleben zu können. „Ich wollte bewusst ein kleineres Institut, das lieber mit vielen Partnern zusammenarbeitet“, begründet er diesen Schritt und ergänzt noch „ich bin eher so die Manufaktur.“ Und als solche wird er nicht müde, dem Thema Zukunft eine Bühne zu geben. Sein Arbeitsalltag ist sehr vielseitig. Neben der Unternehmensberatung veranstaltet er auch Workshops und hält Vorträge als Inspirationsredner, etwa bei Firmenevents. In seinem neuen Sammelband „Creating the better Normal“ setzen er und viele weitere Autoren sich mit den Chancen auseinander, die die Coronakrise für die Bereiche Arbeit, Kommunikation und Wirtschaft mit sich bringt. Seit Oktober 2020 ist er außerdem in seinem Podcast „carls zukunft der woche“ zu hören.

Doch warum ist Michael Carl der Dialog über die Zukunft so ein großes Anliegen? Seine Antwort: „Mich treibt ein schlichter Gedanke um: Ich glaube, dass wir zu wenig über die Zukunft sprechen. Wenn wir kein gemeinsames Bild davon haben, dann fällt es uns umso schwerer, für die eigene Zukunft tätig zu werden.“ Das zeige auch die Geschichte der Corona-Pandemie, findet er. Niemand wisse so richtig, „wo wir stehen wollen, das verwirrt einige besonders, wie etwa die Querdenker.“

Neben der Pandemie diagnostiziert der Zukunftsforscher drei Krisen, die die 2020er-Jahre prägen würden: die demographische, die Klimakrise und der Wandel der Arbeitswelt. Entscheidend sei, was man daraus mache, aus „Situationen, in denen man sich ungefragt und plötzlich von vertrauten Selbstverständigkeiten verabschieden muss. Denn sie bieten auch neue Gelegenheiten“. Carl wolle nichts schönreden, aber „Krisen passieren eh – entweder wir verkriechen uns in unserem Schneckenhaus oder wir bekommen den Hintern hoch“, sagt er.

Wie sich die Arbeitswelt ändern wird, darauf geht Carl genauer ein: Corona habe einen Moment geschaffen, in dem darüber nachgedacht werden könne, wie sich der Arbeitsalltag besser gestalten ließe. „Während der Pandemie haben wir gelernt: fast alles geht mobil.“ Auch der Fachkräftemangel spiele eine Rolle. „Entweder bewirbt sich keiner oder die Bewerber sind sehr kritisch. Das erleben Unternehmen immer häufiger. Da hilft kein Kicker im Pausenraum oder ein Obstkorb.“ Carl ist überzeugt: In Zukunft werden die Mitarbeiter selbst entscheiden, wann und wo sie arbeiten. Auch der Führungsstil werde nicht mehr von Misstrauen und Kontrolle, sondern von Vertrauen und Unterstützung geprägt sein müssen.

Schließlich bleibt nur noch eine Frage offen: Hat ein Mann, der mit so viel Leidenschaft seiner Arbeit nachgeht, Zeit und Energie für Hobbys? „Ich lese viele Bücher, gerne simultan“, erzählt Carl. Aktuell schmökere er in dem Bestseller „Sprache und Sein“ von Kübra Gümüsay, im Roman „Das Lied der Arktis“ von Bérengère Cournut und in einem Sachbuch über kognitive Psychologie. „Früher habe ich auch im Chor gesungen. Tenöre, wie ich einer bin, sind ja immer Mangelware“, so Carl. Doch sein Berufsleben sei so „durcheinander“, dass er dieses Hobby aufgeben musste.

Michael Carl hat in seinem Leben schon viele berufliche Etappen hinter sich. Fast wurde er Pfarrer, er war Journalist, gehobenes Mädchen für alles und ist gegenwärtig Zukunftsforscher. Ist er endlich angekommen oder zeichnet sich für ihn am Horizont schon eine neue berufliche Zukunft ab? „Nein“, antwortet er lachend, „die nächsten Jahre möchte ich gerne weiter als Zukunftsforscher arbeiten.“ Pauline Szyltowski

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