Von Brasilien über Dresden und Berlin nach Leipzig: Die Tänzerin und Sozialwissenschaftlerin Ana Claudia Ronzani. Foto: André Kempner

Leipzig. „Früher wollte ich eigentlich Präsidentin werden und die Welt verändern“, erzählt Ana Claudia Ronzani mit einem Lächeln. Und ergänzt: „Andererseits hatte ich auch diese große Leidenschaft für den Tanz.“ Der Startschuss für einen bemerkenswerten Lebensweg, der die Brasilianerin sowohl auf die Ballettbühnen als auch zum Soziologiestudium an die Universität Brasilia führte – und der nun mit einer ganz neuen Herausforderung in Leipzig aufwartet. Einer Herausforderung, die irgendwie sogar die Tanzleidenschaft und die Lust auf Veränderung zusammenbringt: Sie steht als Leiterin an der Spitze der gerade neu gegründeten Seniorcompany vom Leipziger Tanztheater (LTT).

Es gibt ja immer mal diese ganz außergewöhnlichen Gänsehaut-Momente. Und Ana Claudia Ronzani kann sich noch richtig gut an den letzten entsprechenden Gänsehaut-Moment erinnern. „Ich hatte von dieser LTT-Idee gehört, eine Seniorcompany ins Leben zu rufen – und da hatte ich tatsächlich sofort Gänsehaut. Ich wusste, dies ist genau das Richtige für mich.“ Jetzt, etliche Monate und eine intensive Bewerbungsphase später, sitzt die gebürtige Brasilianerin nach der allerersten Premieren-Probe der neuen LTT-Seniorcompany im Tanzsaal, mit einem strahlenden Lächeln – sie hat es geschafft, sie steht an der Spitze dieser Gruppe von Menschen, die es sich vorgenommen haben, in den kommenden Monaten eine erste Produktion auf die Tanztheaterbühne zu bringen. Bis zu den Leipziger Tanztheaterwochen 2023, um es ganz genau zu sagen.

Ein besonderer Moment

„Das war schon ein besonderer Moment“, sagt sie ein wenig nachdenklich mit Blick auf diese Gründung, die da pünktlich zum Welttag des Tanzes angesetzt wurde: „Mir hat diese künstlerische Herausforderung in den vergangenen Monaten wirklich gefehlt.“ Dafür gibt es nunmehr Herausforderungen beinahe im Überfluss: Nicht nur, dass die Tänzerin, Choreografin und Tanzpädagogin Ana Claudia Ronzani ganz persönlich echtes Neuland betritt in dieser Arbeit mit 25 Frauen und Männer jenseits des 50. Lebensalters – die Idee von (professionellen) Seniorcompanys an Tanztheatern ist generell ganz schön neu. Was sie in Vorbereitung der neuen Aufgabe auch herausfinden sollte: „Es ist schon ein Fakt, dass die Arbeit mit Senioren im Tanztheater noch nicht diesen Raum hat. Und man deshalb ganz schön recherchieren muss, um etwas zu diesem Thema zu finden.“

Dresden erwies sich als exzellenter Anlaufpunkt – die Stadt kannte sie ohnehin vom Studium an der Palucca Hochschule für Tanz. Und genau da hatte Jenny Coogan – selbst Professorin an der erwähnten Hochschule – schon vor mehr als zehn Jahren mit dem Tanzensemble ArtRose eine ganz ähnliche Company ins Leben gerufen. „Natürlich bin ich da vor Ort gewesen und habe mit der Leiterin und den Seniorinnen und Senioren gesprochen. Ich habe mich in den vergangenen Monaten intensiv auf die Gründung vorbereitet – und ich bereite mich immer noch permanent vor“, erzählt Ana Claudia Ronzani. Aber auch davon, dass es nun darum geht, einen ganz eigenen Weg zu finden – beispielsweise beginnend damit, dass sich das neue LTT-Ensemble eben keinen eigenen Namen suchen wird. Es bleibt erst einmal beim schlichten Seniorcompany.

Wohl auch, um möglichst viel (künstlerischen) Spielraum zu wahren. Denn eines kennt sie nur zu gut: Den Druck der Erwartungshaltungen beispielsweise und die vielen anderen Schattenseiten des professionellen Tanzes. Der sie dann doch den Kopf schütteln lässt, wenn vom „Glück des Tanzens“ die Rede ist – weil da all die Tränen und zerbrochenen Träume weggedrückt werden, von denen auch Ana Claudia Ronzani berichten kann. Denn auch dies ist eine Wahrheit – am Anfang stand ein Klischee. „In Brasilien gehen die Jungen zum Fußball und die Mädchen zum Ballett, schon ein kritisches Rollenbild“, erzählt sie. Davon, wie sie mit sieben Jahren zum ersten Mal in die Tanzschuhe schlüpfte, aber erst mit 13 Jahren eine Lehrerin fand, die ihr wirklich das Selbstvertrauen gab, es nachhaltig mit dem Sprung auf die Bühne zu versuchen. Das Spannende dabei – diesen Drang, die Welt ein wenig schöner, gerechter, besser zu machen, hat sie nie verloren. Deshalb tanzte sie nicht nur in Ensembles wie Atmos cia de dança und Grito cia de dança, sondern studierte auch Sozialwissenschaften. „Und heute merke ich, dass dies wirklich das Beste für mich war“, sagte Ana Claudia Ronzani: „Auch Tanz ist eine Möglichkeit, politisch zu wirken und damit sogar Menschen zu erreichen, die man sonst eben nicht erreicht.“ Und mit einem Lächeln sagt sie: „Nahezu alles, was ich in meinem Leben gemacht habe, hatte auch diese sozialpolitische Komponente. Vielleicht ist dies nun mal mein Weg.“

Die guten Seiten und die weniger guten Seiten

Der sie im Jahr 2009 nach Deutschland führte – auf der Suche nach neuen künstlerischen Perspektiven und Möglichkeiten. Auch mit einem Hunger nach neuem Wissen – den sie wie schon gesagt stillte an der Palucca Hochschule in Dresden, später in Kursen zu Improvisationen oder Dramaturgie. Berlin wurde die neue Heimat, „da fühle ich mich wohl, da gibt es eine brasilianische Community“. Schnell lernte sie die deutschen Widersprüchlichkeiten kennen – die Gleichzeitigkeit von Enge und Weltläufigkeit. „Manchmal fehlt mir schon die Sonne und die spontanere Lebensweise von Brasilien“, überlegt sie. Und erzählt davon, welche (abweisenden) Erfahrungen auch sie selbst machen musste mit deutschen Ausländerbehörden: „Andererseits gibt es in diesem Land so viele offene und herzliche Menschen.“

„Es geht um den Kopf“

Viele von ihnen hat sie auch in Leipzig kennengelernt. Nicht allein bei den Workshops im Vorfeld der Seniorcompany-Gründung, die sich riesiger Beliebtheit erfreuten. Ja, einst hatte Ana Claudia Ronzani auch mal an der Oper der Messestadt vorgetanzt und seit gut drei Jahren gehört sie zum LTT-Team. Was dann wiederum zum eingangs erwähnten „Gänsehaut-Moment“ führte – wohl auch deshalb, weil schnell klar war, dass sie ihren eigenen Weg weiter beschreiten könnte. An einem Haus, das eben auch einen sozialpolitischen Anspruch an sich selbst stellt – über die reine Ästhetik hinaus.

„Ja, Tanz kann Glück bringen“, mit dieser Idee will Ana Claudia Ronzani an die Arbeit mit der neuen Seniorcompany gehen. Und dabei doch einige Dinge anders machen; weniger Druck und Ungerechtigkeiten, weniger Tränen, mehr Demokratie und Miteinander. Sie ist sich des Spagats durchaus bewusst: „Sobald es um eine Bühnensituation geht und darum, ein Stück dort zu präsentieren, wird es auch mal zu Tränen kommen.“ Aber sie hat ihre Ideen, den oft allgegenwärtigen mentalen und körperlichen Druck in Tanz-Companys und -Ensembles zum umgehen. „Es ist doch in der Alterstufe ab 50 Jahren nicht mehr wichtig, wie hoch man das Bein noch heben kann“, erklärt sie: „Hier geht es doch viel mehr um den Kopf. Wenn der Druck erstmal weg ist, dann hat man viel mehr Raum für Kreativität.“

Das Bemerkenswerte dabei: Man hört es bei diesen Worten überhaupt nicht, dass sich auch Ana Claudia Ronzani wie schon erwähnt auf echtem Neuland bewegt. „Ja, es ist eine Premiere, meine erste Company, die ich allein leite – bislang haben ich da immer zu zweit in einem Team gearbeitet“, andererseits war es in der letzten Zeit eher die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, die ihren beruflichen Alltag bestimmte. Und da gebe es schon gewaltige Unterschiede: „Kids werfen sich sofort voll rein, verlieren aber auch schnell die Konzentration. In der Seniorcompany ist es eher umgedreht: Man muss sich das Vertrauen erst einmal erarbeiten. Dafür hat man den großen Vorteil, auf im Gehirn gespeicherte Bewegungsabläufe zurückgreifen zu können.“ Wie glückstiftend und geradezu befreiend diese Entdeckungsreise in Bewegungen aus der eigenen Kindheit sein können, dies konnte man wahrlich bei der ersten Seniorcompany-Probe sehen …

Diversitäten nutzen

Darauf will Ana Claudia Ronzani nun aufbauen. Behutsam, aber planvoll; immer mit Raum für Spontanität, aber dem klaren Ziel der Inszenierung eines eigenen Stückes. „Ich will die Tänzerinnen und Tänzer ganz stark mit reinnehmen in den künstlerischen Prozess – denn ist so spannend, dass sie so unterschiedliche berufliche Hintergründe mitbringen.“ Diese Diversität möchte sie unbedingt nutzen, am liebsten in einem gemeinschaftlichen Prozess: „Tanz kann demokratisch sein. Und natürlich Raum für jeden Menschen bieten. Genau deshalb möchte ich sehen, was die Tänzerinnen und Tänzer bewegt – und genau deshalb finde ich die Arbeit auf Augenhöhe und die Offenheit für das Feedback aus der Seniorcompany enorm wichtig.“

Deshalb werden es spannende Wochen für die frischgebackene Company-Leiterin: Klar, auf der einen Seite steht die Arbeit an der handwerklichen Basis, das körperliche Training – aber andererseits steht auch das Kennenlernen an, die Gespräche und Debatten über Themen, über Ästhetik und Kunst. „Ich bin ein emotionaler Mensch. Und ich habe in meinem Leben viele Ungerechtigkeiten erlebt – das möchte ich nun anders machen. Und auf die emotionale Ebene viel Wert legen.“ Jens Wagner

Weitere Infos unter: www.leipzigertanztheater.de

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