Die Stürmerin Anja Mittag (l.) über RB Leipzig, den Olympiasieg in Rio als „Mount-Everest-Besteigung“ und die Lebensqualität in Schweden. Foto: Thomas Eisenhut

Leipzig. Wenn es eine Nachricht aus der drittklassigen Fußball-Regionalliga der Frauen in das Fußballmagazin „Kicker“ schafft, muss schon etwas ganz Besonderes verkündet werden. „Anja Mittag wechselt zu RB Leipzig“ war vor einem Jahr definitiv eine solche Meldung, die in Fußballkreisen im ganzen Land aufhorchen ließ. Kein Wunder: Schließlich ist Anja Mittag eine der erfolgreichsten deutschen Fußballerinnen der vergangenen 15 Jahre. Olympiasiegerin 2016, Weltmeisterin 2007, dreimal Europameisterin, Champions-League-Siegerin 2010, dazu sechsmal deutsche und zwei schwedische Meistertitel sowie drei DFB- und zwei schwedische Pokalsiege: Die Titelliste der 35-jährigen Angreiferin ist lang. Im Mai 2019 beendete sie beim schwedischen Rekordmeister FC Rosengård in Malmö ihre lange und erfolgreiche Karriere als Profispielerin, suchte eine neue Herausforderung und wollte gleichzeitig ihre ersten Schritte als Trainerin machen. Dann kam die Anfrage aus Leipzig – und sie griff beherzt zu. „Als sich die Chance bot, bei RB Leipzig Teil einer aufstrebenden Frauen- und Mädchenabteilung zu werden und in der Nähe meiner Heimat Chemnitz zu sein, war ich sofort Feuer und Flamme. Die Perspektive, etwas entwickeln zu können und mich selbst weiterzubilden, hat am Ende den Ausschlag gegeben. Im Nachhinein kann ich sagen, dass ich alles richtig gemacht habe“, freut sich Anja Mittag. „Primär bin ich Individualtrainerin. Aber ich bin froh, dass ich der Mannschaft durch meine Erfahrung auch auf dem Feld noch helfen konnte.“

In der abgebrochenen Spielzeit schaffte sie mit den RB-Frauen den Aufstieg in die 2. Bundesliga. Und auch wenn sie ihre Karriere als Spielerin eigentlich beendet hatte, schnürte sie in der dritthöchsten deutschen Spielklasse für die Leipzigerinnen die Schuhe, ging als Führungsspielerin voran und zeigte mit der Rückennummer 31, dass sie nichts von ihrer Treffsicherheit eingebüßt hat. In 15 Saisonspielen erzielte sie 17 Tore. „Obwohl die Umstände durch die Corona-Krise natürlich ungewöhnlich sind, freue ich mich sehr über den Aufstieg. Ich denke, am Ende war es auch verdient. Wir hätten natürlich alle gern den normalen Weg genommen. Ich bin mir sicher, dass wir auch dann den Aufstieg geschafft hätten. Ich habe ja selbst miterlebt, wie sich die Mannschaft sukzessive weiterentwickelt hat und welche Qualität in ihr steckt“, zieht sie ein positives Saison-Fazit und lobt die Mannschaft: „Die junge Truppe ist unglaublich erfolgshungrig. Alle sind gewillt, hart zu arbeiten, und alle wollen sich verbessern. Das, gepaart mit einem außergewöhnlichen Teamspirit, macht die Truppe besonders.“

In dieser Woche gab Anja Mittag ihr endgültiges Karriereende als Spielerin bekannt, um sich ganz auf ihre Karriere als Trainerin zu konzentrieren. Dabei will die Vollblutfußballerin weiter dazulernen und sich weiterentwickeln. Hier sieht sie ihre Zukunft – zumindest momentan, wie sie lachend anmerkt: „Es macht mir viel Spaß. Aber was weiß ich denn, was ich in ein paar Jahren mache, was mich dann eventuell reizt. Ich lasse erst mal alles auf mich zukommen.“ Auch abseits des Fußballfeldes fühlt sich Anja Mittag in Leipzig richtig wohl. Die Lebensqualität in Leipzig ist schon sehr hoch, mit den vielen Parks, den Seen in der näheren Umgebung und den kurzen Wegen. Das ist für eine Großstadt schon ein echter Luxus.“ Ihre ersten Schritte im Fußball machte sie mit sechs Jahren beim VfB Chemnitz. Einige Erinnerungen an ihre fußballerischen Anfänge sind immer noch allgegenwärtig. Auch die 1:10-Niederlage in ihrem allerersten Spiel, die sie inzwischen schmunzeln lässt, hielt sie nicht von der Fußballkarriere ab. Auch an die Spiele gegen den damaligen Stadtrivalen Chemnitzer FC, zu dem sie 1997 wechselte, erinnert sie sich immer wieder gern. „Ich glaube, ich habe relativ früh gemerkt, dass ich ein gewisses Talent besitze – und meine Eltern wahrscheinlich auch“, sagt sie augenzwinkernd: „Ich konnte mich gegen gleichaltrige Jungs durchsetzen und wollte mich stets weiterentwickeln.“ Parallel spielte Anja Mittag in ihrer Kindheit auch noch Handball, auf Dauer ließen sich beide Sportarten aber nicht miteinander vereinbaren. So war schnell klar, dass sie sich für den Fußball entschied. RB Leipzig ist für Anja Mittag der sechste Verein in ihrer Profi-Karriere. Am einprägsamsten sei für die gebürtige Chemnitzerin die Zeit beim 1. FFC Turbine Potsdam gewesen. Kein Wunder: Schließlich spielte sie hier nicht nur 9 1/2 Jahre sondern gewann mit den Brandenburgerinnen fünf deutsche Meistertitel, dreimal den DFB-Pokal und 2010 die UEFA Women‘s Champions League. Im Sommer 2002 war sie vom FC Erzgebirge Aue in die brandenburgische Landeshauptstadt gekommen – mit 17 Jahren. „In Potsdam bin ich gereift und wurde von einer jungen, unerfahrenen Fußballerin zur Nationalspielerin. Außerdem konnte ich dort meine ersten großen Erfolge feiern“, erinnert sich Anja Mittag. Schnell stellte sie bei Turbine ihr großes Talent unter Beweis, erzielte schon in ihrer ersten Bundesligasaison acht Tore. Viele weitere sollten folgen. „Potsdam war eine unvergessliche Zeit. Als Team haben wir viele Erfolge, aber auch einige Misserfolge erlebt. Vor allem der Wandel des Vereins war schön mitzuerleben. Der Gewinn der Champions League 2010 in Madrid gegen Olympique Lyon im Elfmeterschießen war einer meiner größten Erfolge.“ Beim Königsklassen-Finale vor zehn Jahren hatte es nach 120 spannenden Minuten 0:0 gestanden, also musste das Elfmeterschießen die Entscheidung bringen. Hier scheiterte Anja Mittag mit ihrem Schuss, konnte aber am Ende mit ihren Teamkolleginnen trotzdem ausgelassen einen 7:6-Sieg bejubeln. Noch heute verfolgt sie aus der Ferne die Geschehnisse bei den Potsdamerinnen, die inzwischen ins Mittelfeld der Bundesliga abgerutscht sind. „Ich wünsche dem Verein nur das Beste und freue mich, wenn der Club Erfolge feiert. Aber ich glaube, es wird nicht einfacher, an die alten Erfolge anzuknüpfen.“ Ein Jahr nach dem Champions-League-Triumph verließ die meinungsstarke Führungsspielerin Potsdam – auch, um noch etwas weiter über den eigenen fußballerischen Tellerrand hinauszuschauen. In sechs Jahren in Schweden (2006, 2012 bis 2015 und 2017 bis 2019), einer Saison bei Paris Saint-Germain (2015/16) und einer Spielzeit beim VfL Wolfsburg (2016/17) füllte Anja Mittag nicht nur ihren Trophäen-Schrank, sondern formten auch ihren Charakter – gerade, wenn es sportlich mal nicht so lief, wie in Wolfsburg. „Jede Station in einer Karriere ist wichtig für dich als Sportler, aber auch als Mensch. Man lernt sehr viel über sich selbst, kommt in Kontakt mit neuen Kulturen und erweitert seinen Horizont. Auch wenn es nicht immer überall einfach war, will ich die Stationen nicht missen“, blickt sie zurück. Richtig gut lief es für die Wahl-Leipzigerin in Schweden. Beim FC Rosengård gewann sie jeweils zweimal den Meistertitel, den Pokal und den Supercup. 2012 und 2014 wurde sie als Torschützenkönigin zur Spielerin des Jahres gekürt. Auch abseits des Rasens fühlte sie sich in dem skandinavischen Land pudelwohl. „Das Leben in Schweden war schön. Dort herrscht eine große Lebensqualität. Die Menschen haben immer eine freundliche Mentalität. Nicht umsonst zählt Schweden zu einem der beliebtesten Reiseländer der Deutschen“, schwärmt Anja Mittag: „Das Vereinsleben ist ähnlich wie in Deutschland. Die meisten Clubs in Schweden sind auch reine Frauenvereine. Es wird viel Herzblut und Leidenschaft reingesteckt. Rein fußballerisch sehe ich keine großen Unterschiede zu Deutschland.“ Ganz besondere Momente erlebte Anja Mittag in der Nationalmannschaft. Hier absolvierte sie von 2004 bis 2017 insgesamt 158 Spiele und erzielte 50 Tore. „Es war eine große Ehre für mich, das Nationaltrikot getragen zu haben. Jedes Mal, wenn ich den Adler auf der Brust trug, erfüllte mich das mit unglaublich viel Stolz. Ich denke gern zurück an die Zeit bei der Nationalmannschaft. Da waren unglaublich prägende Momente dabei“, erinnert sie sich. Im Trikot mit dem Adler auf der Brust war sie allerdings eher eine Spätzünderin. Beim WM-Titel 2007 gehörte sie zwar zum Kader, durfte aber nur beim 11:0-Auftaktsieg gegen Argentinien für sechs Minuten ran. Auch bei der Europameisterschaft zwei Jahre später in Finnland gehörte sie zur „zweiten Reihe“. Und nachdem sie 2011 ausgerechnet bei der Heim-Weltmeisterschaft von Bundestrainerin Silvia Neid kurz vor dem Turnier aus dem Kader gestrichen worden war, dachte sie über einen Rücktritt aus der Auswahl nach. Aber sie blieb und biss sich durch. Und nach dem Wechsel nach Schweden kam auch die Bundestrainerin nicht mehr an Anja Mittag vorbei. Bei der Europameisterschaft 2013 in Schweden schoss die Angreiferin das deutsche Team im Finale gegen Norwegen mit ihrem Tor zum 1:0-Sieg – vier Minuten nach ihrer Einwechslung. Zwei Jahre später bei der WM in Kanada schaffte sie mit fünf Toren und der Berufung ins All-Star-Team endgültig den Durchbruch. Am Ende eines starken Turniers reichte es nach dem 0:1 nach Verlängerung gegen England im „kleinen Finale“ (nur) zu Platz vier. Ein Jahr später stand sie bei den Olympischen Spielen in Rio mit dem Team ganz oben auf dem Siegertreppchen – mit der Goldmedaille um den Hals. „Der Olympiasieg war ein ganz besonderer Moment. Olympia ist schließlich das größte Sportereignis der Welt. Dort einmal dabei zu sein, davon träumt jeder Sportler. Und dann auch noch Gold zu holen, das war für mich wie eine Mount-Everest-Besteigung – quasi am Gipfel angekommen“, erinnert sie sich mit strahlenden Augen. Nach der enttäuschenden EM 2017, die bereits im Viertelfinale mit der 1:2-Niederlage gegen Dänemark endete, beendete Anja Mittag ihre Nationalmannschafts-Karriere. Dass nach dem Olympiasieg die Erfolge der deutschen Fußballerinnen ausgeblieben sind, ist für die Chemnitzerin nicht ungewöhnlich. „In erster Linie glaube ich, dass andere Länder aufgeholt haben, indem sie professionellere Strukturen aufgebaut haben. Die neue Konkurrenz ist klasse für den Frauenfußball und wird auch die Deutsche Nationalmannschaft zu noch besseren Leistungen pushen. Die Nationalelf durchlebt aktuell eine Art Generationswechsel. Trotzdem spielen wir tollen Fußball mit einem jungen Team. Ich bin mir sicher, dass die Deutschen auch bald wieder um einen Titel mitspielen werden.“

Auch abseits des Fußballs ist Langeweile für die immer bodenständig gebliebene Anja Mittag ein Fremdwort. „Im Moment habe ich das Dartspielen für mich entdeckt, ansonsten lese ich gerne und höre auch viel Musik.“ Außerdem ist sie seit vielen Jahren als Botschafterin der Hilfsorganisation World Vision International aktiv – ein Engagement, das ihr sehr wichtig ist. „Als Profi-Sportler lebt man in seiner eigenen Blase. Da tut es gut, wenn man sich ab und zu vor Augen führt, wie privilegiert man eigentlich ist, sein Hobby zum Beruf gemacht zu haben. Dann hält man inne und denkt an die, die es nicht so gut getroffen haben“, sagt die 35-Jährige: „Ich spürte irgendwann, dass ich auch etwas zurückgeben möchte und war mir meiner Verantwortung bewusst, die ich als Person des öffentlichen Lebens habe. Deshalb war es für mich keine Frage, denen zu helfen, die in Not geraten sind.“ Ein typischer Sonntag ist für Anja Mittag – zumindest während der Saison – in der Regel ein Spieltag. Einen freien Sonntag nutzt sie, um Freunde oder die Familie in Chemnitz zu treffen oder entspannt, Fußball auf der Couch zu schauen. Andreas Neustadt

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