
Großer Bahnhof im Leipziger Krystallpalast: Artistinnen und Artisten, Zauberer, Akrobatinnen und Akrobaten zeigen in einer besonderen Show, wie gut sie noch drauf sind – das ist schon außergewöhnlich, denn alle sind eher im älteren Semester unterwegs. Klar, ein paar junge Leute sind auch dabei. Ganz wichtig: Im Publikum sitzt ein Ehrengast, stolze 100 Jahre alt. Für diesen Ehrengast gibt’s vom Jongleur Gerd Voigt – der an jenem Abend auch als Moderator fungiert – eine besonders herzliche Begrüßung. Und dies garniert mit einem Stück Eierschecke, dem Lieblingskuchen von Erwin Leister.
Sachsenhymne als Dankeschön
Als Dank für diese Aufmerksamkeit in Wort und Kuchen interpretiert der Geehrte die Verse der von ihm verfassten Sachsenhymne. „Der Sachse ist ne Frohnatur, weltoffen und gemütlich/Und wenn du den nicht ärgern tust, da guckt er auch ganz friedlich/Und wenn och mancher lästern tut, weil er es gar nicht kennt/des Sachsen größte Stärke ist und bleibt: sein Temperament.“ Ein nicht enden wollender Beifall erfüllt den Saal. 100 Jahre, unglaublich: So raunt es durch die Menge. Der in Gohlis Wohnende lächelt. Der Beifall, der gehört zum Leben des Regisseurs, Schauspielers und Autors Erwin Leister.
Er erinnert sich, als sei es gestern gewesen. An seine erste (langfristige) Begegnung mit der Bühne. Das war 1949 am Stadttheater in Nordhausen. Erwin Leister hatte in Erfurt Schauspiel studiert und nun sein erstes Engagement in der Tasche. Als jugendlicher Held und Liebhaber. „Ich war wahnsinnig aufgeregt und am Ende überglücklich über den Beifall, sogar während des Spiels“, sagt er. Und dann war eines ganz schnell klar: „Ja, genau das ist’s, was ich mein Leben lang machen möchte.“ Das sagte er sich und dabei blieb er bis heute.
Das Operettenfach mal eben ein wenig abgestaubt
Die Engagements kamen – im Zeitzer Theater beispielsweise. Oder am Greizer Haus, an dem er vom Intendanten Otto Ernst Tickardt auch die Chance bekam, mal sein Regietalent auszuprobieren und zwar im Operettenfach. Der entscheidende Punkt: Eigentlich hielt Erwin Leister das für angestaubt (eine Meinung, die auch Schauspieler Rolf Hoppe und anderen Künstler teilten).
So gab er als Felsenstein-Verehrer mit der Zeit seinen Operetteninszenierungen darstellerisch und inhaltlich einfach mal einen neuen Kick. Mit guten Ergebnissen, die sich auch herumsprachen. Bis zum Leipziger Generalintendanten Karl Kayer, der Erwin Leister kurzerhand ein Gastspiel anbot.

Der Kaffee gehört einfach dazu – auch zum 101. Geburtstag brüht sich Erwin Leister diesen selbst.
Foto: Traudel Thalheim
So kam der gebürtige Thüringer mit seiner Inszenierung „In Frisco ist der Teufel los“ nach Sachsen, begeisterte in der Messestadt und wurde schließlich 1970 Oberspielleiter an der Leipziger Musikalischen Komödie. Seine Bilanz: Bis 1990 brachte er an die 50 Inszenierungen auf die MuKo-Bühne.
„Ich hatte ein sehr spielfreudiges Ensemble an meiner Seite und ein Publikum der Extraklasse“, sagt er und erzählt von einer Aufführung: „Wir spielten `Eine Nacht in Venedig` mit dem Leipziger Opernsänger Edgar Wählte in der Hauptrolle auftrat – den feierten die Frauen wie einen lieben Gott. Immer und immer wieder ertönte die lautstarke Bitte nach einer Zugabe. Die Zuschauerinnen umsäumten die Bühnenrampe … und ich ließ mich schließlich zur Zugabe erweichen, die sonst in meinen Inszenierungen nie üblich war. Und ich denke manchmal mit einem Lächeln daran zurück.“
Zur Jubiläums-Revue gings nach Ägypten
Was übrigens auch für viele andere herausragende Ereignisse gilt. Der Gedanke an sein Gastspiel in Ägypten beispielsweise. Die Ausgangsposition: Er solle in Kairo eine Jubiläums-Revue zu „1000 Jahre Ägypten“ inszenieren, hieß es. Perplex über das Angebot habe er sich riesig gefreut – gespannt auf das Kommende machte er sich mit dem Choreographen Dietmar Seyffert auf den Weg.
Und es wurde der nächste große Moment: Der Beifall war grandios. Auch der damalige Präsident der Arabischen Republik Ägyptens Gamal Abdel Nasser reichte Erwin Leister die Hand. „Es waren zwei anstrengende, erfüllte Jahre mit etlichen Ausflügen in die historische Vergangenheit des Landes“, sagt der Regisseur. Das Gute: Er hatte seine Frau Jutta – er hatte sie als Tänzerin einst auf der Bühne und dann auch als Autorin kennen gelernt, die ihn in seinem künstlerischem Schaffen ab und an unterstützte – und Tochter Patricia mit dabei.
Inszenierungen auf internationaler Bühne
Dann sind da noch die Inszenierungen am Warschauer Theater, am Saarländischem Staatstheater, am Puppentheater in Zwickau … Und die Jahre beim DDR-Fernsehen in Adlershof: Dort war er der Regisseur für das Heitere, konnte die herrlichen Begegnungen mit dem Duo Rolf Herricht und Hans-Joachim Preil genießen. Die Arbeit mit der Hahnemanns Helga, Herbert Köfer und Eva Maria Hagen während der Silvesteraufzeichnungen … Oder die Zeit, als Erwin Leister eigentlich schon im Ruhestand hätte sein können. Und doch noch als Dozent an der Leipziger Hochschule für Musik und Theater in der Fachrichtung Jazz/Popularmusik/Musical für den Musical-Nachwuchs am Start war.
Der erneute Griff zum Stift
Weit in die 80 greift Erwin Leister wieder zum Stift, schildert sein Leben lustig, kritisch, nachdenklich in all den Facetten der Jahrzehnte. Seinem Buch „Im Galopp durch die geschenkte Zeit“ über seine Jugendjahre ließ er im Jahr 2017 mit „Ungeschminkt – Im Galopp durch die geschenkte Zeit“ einen zweiten Teil folgen – der sich dann mit seinem Weg von („Provinz-“)Schauspieler zum Regisseur beschäfigt. Und er setzt mit seinen „Gedankensplittern“ 2020 noch eins drauf nach seinem Motto: „Gestern ist vorbei, was morgen ist, wissen wir nicht, also lebe den Augenblick.“
Eine fast familiäre Verbindung
Diesen Augenblick lebt und genießt er in vollen Zügen. Ab und an dabei und zwar mit ihrem Auto ist Hannelore Schilling, die einst in der MuKo zum Musikensemble gehört und, später deutschlandweit als Sängerin unterwegs war. Inzwischen pflegt Erwin Leister mit ihr und ihrem Mann Thomas seit Jahren eine fast familiäre Verbindung. Kommt dann noch der bereits erwähnte Jongleur Gerd Voigt dazu, fühlt man sich in den vier Wänden wie in einem Theater, so lustig geht’s zu. Kein Wunder, dass die Drei vor Jahren noch öfter gemeinsam auftraten.
Inzwischen liegt Erwin Leister manchmal träumerisch auf seinem Sofa, das Stille sein Seelenheil. Und was die Gesundheit betrifft, da gibt es dieses oder jenes Wehwechen. Doch damit könne er gut damit leben, sagt der Mann, der nach wie vor täglich die LVZ liest und die Nachrichten hört. Ein Gang um die Ecken täglich mit dem Rollator muss auch sein, hin und wieder geht es sogar bis auf den Leipziger Markt.

Denn ein Besuch auf einem seiner Lieblingsplätzchen gehöre auch dazu. Liebend gern beobachtet er die Leute auf dem Markt und gelegentlich schlüpft Erwin Leister dann gedanklich in die Zeit von 1991 bis 2012, in der er als mit Rock und Dreispitz kostümierter, scharfzüngiger conferencierender Marktmeister die Leipziger Markttage eröffnete.
Ein Hörbuch über schreckliche Zeiten
Vor ein paar Tagen beendet er zudem ein Hörbuch über die schrecklichste Zeit seines Lebens: Er war Soldat in Afrika, wurde verwundet, kam in englische Gefangenschaft. Wenn die Weihnachtszeit komme, dann laufen ihm heute noch die Tränen über die Wange, gesteht er und erzählt, wie alle Gefangenen herzzerreißend beim Singen von „Stille Nacht“ weinten „Wer den Krieg erlebte, der weiß, dass dies das Schlimmste auf der Welt ist und Frieden das Schönste, den sich jeder wünscht. Und für den jeder eintreten sollte“, sagt der 100-Jährige. Übrigens: Er übergab das Hörbuch seinem Enkel Florian, der es ins Internet stellen wird.
Großer Geburtstag in ruhiger Runde
Apropos großer Bahnhof: Den gab es nun auch am Samstag, 8. November, in Gohlis. Da wurde Erwin Leister 101 Jahre alt. Bei Gratulationen winkt er aber ab. Klar, der 100. Geburtstag sei gebührend in der MuKo gefeiert worden, auch mit Sozialministerin Petra Köpping. Anno 2025 ist von Glanz und Glamour eher wenig zu spüren: „Ich geh den Tag mit meiner Tochter, die aus Berlin da sein wird, und mit Freunden ruhig an.“ Traudel Thalheim































