Angekommen in Leipzig: Der neue Nikolaikantor Lucas Pohle steht in diesen Tagen durchaus vor großen Herausforderungen - als Musiker, aber auch als Organisator. Foto: Jens Wagner

Leipzig. Es sind arbeitsreiche Tage für Lucas Pohle – seit dem März dieses Jahres der neue Kantor an der so geschichtsträchtigen Nikolaikirche im Herzen Leipzigs. Und dabei geht es in erster Linie nicht einmal um den Orgelherbst, der in dem Gotteshaus am Sonnabend fortgesetzt wird mit dem neuen Nikolaikantor an der großen Ladegast-Eule-Orgel: „Aber man muss sich ja längst auch mit der Organisation der Konzerte und Motetten zur Weihnachtszeit beschäftigen.“ Und dies ist in Zeiten der Corona-Pandemie erst recht eine riesige Herausforderung.

Ja, auch dies ist eine (ganz wichtige) Facette der Aufgabe, der sich der 34-Jährige an der neuen Wirkungsstätte in Leipzig widmen muss – als Nikolaikantor ist man eben nicht nur Musiker, nicht nur Organist, sondern so viel mehr: Organisator, Veranstalter, „Zusammenbringer“, auch ein wenig Hoffnungsträger. Nachdenklich erklärt Lucas Pohle: „Auch wenn ich schon der Meinung bin, dass wir angesichts der Corona-Pandemie in Deutschland in einer einigermaßen komfortablen Situation sind – bei freischaffenden Künstlern und Musikern sieht die Sache schon wieder ganz anders aus. Und da habe ich als Veranstalter auch eine Verantwortung, auch wenn die Möglichkeiten begrenzt sind.“ Dennoch will er sie nutzen – auch mit Motetten und Chorkonzerten in den kommenden Monaten, die angesichts der Hygieneauflagen noch einmal eine größere Herausforderung mit sich bringen: „Orgelkonzerte funktionieren da unter den Corona-Bedingungen ja ziemlich gut.“

Andererseits ist es das Zusammenspiel von vielen verschiedenen Dingen, das ihn begeistert. Schon damals, bei jener Christmette in der heimatlichen Kirche im sächsischen Ebersbach, die gewissermaßen als Weichenstellung fungierte. „Da waren so viele verschiedene Klänge, die da zusammengekommen sind“, überlegt er und ergänzt: „Auch ein Zusammenkommen von Jung und Alt, von Chorgesang und Orgelspiel.“ Das Erlebnis – dies ist deutlich zu spüren – wirkt bis zum heutigen Tage nach. Und es sollte wie gesagt den Lebensweg bestimmen: Im Heimatort erhielt Lucas Pohle seine erste musikalische Ausbildung, es folgte das Studium an der Hochschule für Kirchenmusik in Dresden und an der Universität der Künste Berlin. Bei Leo van Doeselaar (Konzertexamen Orgelliteraturspiel) und Wolfgang Seifen (Konzertexamen Orgelimprovisation) verfeinerte er seine Fähigkeiten am „König aller Instrumente“ (so soll es Wolfgang Amadeus Mozart mal gesagt haben). Dass er nun als Nikolaikantor auf einer Orgel spielen kann, die in vielerlei Hinsicht außergewöhnlich ist, sorgt nach wie vor für Freude und eine gewisse Aufgeregtheit ob der musikalischen Möglichkeiten.

„Die Orgel an sich ist ja bereits ein unglaublich vielfältiges Instrument“, überlegt er: „Dazu kommt eine gewisse sächsische Tradition, die sich sowohl bei Gottfried Silbermann als auch Friedrich Ladegast findet – das Streben nach einer wirklich sehr, sehr guten Qualität der Instrumente, die dadurch diesen Status des Zeitlosen genießen.“ Wobei das Instrument in der Nikolaikirche – ja einst in den Jahren 1858 bis 1862 von Friedrich Ladegast gebaut – noch einmal eine ganz eigene Entwicklung erfahren hat: Erweitert zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Wilhelm Sauer wurde sie 2002/2003 durch die Firma Hermann Eule Orgelbau rekonsturiert und erneut ausgebaut. Die größte Orgel im Freistaat Sachsen und „bis zum heutigen Tag sind wirklich alle Ursprünge genau definiert: Man kann es hören – dies ist Ladegast, dies ist Sauer und dies ist Eule“. Womit das Instrument auch eine Chance eröffnet – die Chance, den Kanon von Orgelmusik zu erweitern. Eine Chance, die Lucas Pohle nur zu gern aufgreift auch in diesen Tagen des Orgelherbstes in der Nikolaikirche, um beispielsweise Kompostionen aus Frankreich zu spielen. An diesem Sonnabend, 19. September, zum Beispiel die V. Sinfonie von Louis Vierne, die gemeinsam mit Werken von Johann Sebastian Bach erklingen wird.

Es war schon diese Vielfalt an stilistischen Möglichkeiten, die dieses bemerkenswerte Instrument in der Leipziger Nikolaikirche bietet, die ihn in die Messestadt gelockt hat: „Jetzt habe ich die Chance, viele unterschiedliche Stile zu spielen – das hatte mich schon gereizt bei der Bewerbung für die Stelle als Nikolaikantor.“ Dabei hatte der 34-Jährige als Kantor im sächsischen Crostau auch schon mit einem einzigartigen Instrument zu tun – mit der Silbermann-Orgel aus den Jahren 1731/1732. Und auch da ging es für Lucas Pohle schon um so viel mehr als „nur“ um das Spielen: Als Initiator begleitete er 2016 die Restaurierung des wertvollen Instruments. „Macht es gut, voller Elan und Energie“, es ist schon ein wenig ein Leitspruch, der sein anhaltendes Engagement für Musik, für Instrumente und nicht zuletzt für Menschen so trefflich beschreibt.

Denn auch dies ist die Aufgabe eines Kantors im Allgemeinen und eines Nikolaikantors im Speziellen: Das Zusammenbringen der Vielfalt. Von Jung und Alt, wie einst bei der Christmette im heimischen Ebersbach. Ein Spagat. „Gerade an einem Ort, an dem Johann Sebastian Bach selbst gewirkt hat, will man doch gute Musik machen. Andererseits geht es aber auch darum, Klangkunst und Emotionen miteinander zu verbinden – und da muss man als Kantor unbedingt aufpassen, dass der reine technische Standard nicht alles erdrückt“, beschreibt er seine Arbeit mit all jenen Mitwirkenden, die er im Bach- und Gemeindechor oder auch im Posaunenchor an seiner Seite hat. Was er wiederum auch als treibenden Punkt für sich selbst als Musiker sieht: „Selbst wenn alles bis ins Detail perfekt geprobt wäre – am Ende muss man immer offen und bereit dafür sein, wenn sich die Dinge neu entwickeln.“

Dazu passt auf jeden Fall, dass er es auch liebt, an der Orgel zu improvisieren. Und er die musikalischen Überraschungsmomente zu schätzen weiß, die wiederum die reichhaltige Orgelliteratur – sprich jene Musikstücke, die für das Instrument geschrieben sind – zu bieten hat. „Für kein anderes Instrument gibt es mehr Stücke als für die Orgel“, sagt er mit einem Lächeln und ergänzt: „Selbst Klassiker wie die Werke von Bach hört und spielt man heute ganz anders als im 18. Jahrhundert.“ Womit man dann bei jener musikalischen Tradition wäre, die untrennbar mit der Nikolaikirche verbunden ist – mit dem Geist von Johann Sebastian Bach. Nun, in dieser Hinsicht nimmt Lucas Pohle diese Tradition nur zu gern auf: „Ich glaube schon, dass sich Bach in diesem Streben nach musikalischer Überraschung wiederfinden würde.“

Andererseits schwingt natürlich auch Ehrfurcht mit, Demut und das Wissen, dass man am besten nicht von den berühmten Fußstapfen sprechen sollte. Wer könne schon in diese treten? Da bleibt der Nikolaikantor bescheiden und eben demütig: „Ich bin als wirklich Letzter mit meinen Konzerten und musikalischen Fähigkeiten zufrieden. Wenn man sich da allein das kompositorische Werk anschaut, das Bach in jeder Woche aufs Neue hat entstehen lassen – da muss man dann doch von musikalischer Genialität sprechen.“ Andererseits wirkt diese aber auch inspiriend: „Für mich ist es ein großer Ansporn, dieser Geschichte gerecht zu werden.“ Wobei er – zunächst – auf keinen Fall das Komponieren gemeint haben möchte: Auch wenn Lucas Pohle schon mal einige kleine Sätze geschrieben hat (und auch schon auf der Silbermann-Orgel in Crostau gemeinsam mit dem Dresdner Barockorchester die CD „Denn Silbermann wird aus dem Werck erkennt“ eingespielt hat), „für größere Stücke braucht es noch ein wenig mehr Zeit. Und vielleicht auch noch ein wenig mehr Alter“.

Es ist wohl eher die Rolle des „Zusammenbringers“, in der er sich inzwischen durchaus wohlfühlt. Als Dorfmensch im quirligen Leipzig, mit einer Baustelle als Nachbarn, die durchaus zu hören ist in der Nikolaikirche. In einem Haus, das sich per Definition als „Offen für jeden“ versteht. Einen Gedanken, den Lucas Pohle nur zu gern musikalisch weiterspinnen möchte: „Dies ist ja nicht nur ein Anliegen vom Orgelherbst, sondern von allen Orgelmusiken, die das ganze Jahr über immer am Samstag stattfinden: Ein musikalisches Angebot, das wirklich für jeden da ist. Das jeden Menschen dazu einlädt, Orgelmusik für sich zu erleben und zu entdecken. Dafür sind wir nun einmal eine Stadtkirche.“ Was wiederum eine weitere Denk-Aufgabe für den Nikolaikantor mit sich bringt: Woche für Woche geht es für ihn darum, „etwas Stimmiges zu präsentieren – schließlich wollen unsere Besucher auch nicht einfach nur berieselt werden“.

Diese Sache mit dem Berieseln ist ohnehin nie die Sache von Lucas Pohle gewesen – er hat eine Definition von (guter) Musik, die eine derartige Passivität irgendwie ausschließt. „Gute Musik braucht tatsächlich mehr als nur einfach das Hören“, überlegt er und ergänzt: „Diese Musik ist dann so vielschichtig, dass man in sie regelrecht eintauchen kann. Das ist übrigens auch der Grund, warum ich beim Arbeiten keine klassische Musik hören kann – zu viel Ablenkung.“ Was aber wiederum schon ein wenig erklärt, warum er den Weg an den Spieltisch der Orgel gesucht hat – weil wie erwähnt dieses Instrument in sich jene orchestrale Vielschichtigkeit vereint. Ein wenig, so philosophiert Lucas Pohle, fungiere ein Organist auch wie ein Dirigent: „Da gehören schon viele Stunden der Vorbereitung dazu, um das Instrument Orgel gut klingen zu lassen.“ Nicht nur, dass jedes Instrument seinen eigenen Charakter habe – selbst die Orgeln von Gottfried Silbermann, die sich im grundsätzlichen Aufbau durchaus ähneln: „Bei einem Orgelkonzert spielen so viele Dinge rein – die eigene Verfasstheit, die Veränderung des Orgelklangs mit dem Publikum in der Kirche und so weiter …“

Da ist er dann auch immer ein Suchender, ein Forschender, ein Experimentierender. Eine Orgel, so sagt er, habe man nie wirklich zu Ende gespielt – weshalb er sich selbst derzeit nur zu gern in die Orgelherbst-Konzerte setzt, um hochrangigen Kollegen aus aller Welt zuzuhören. Und damit auch zu erfahren, wie sie klingt, diese Ladegast-Sauer-Eule-Orgel in der Leipziger Nikolaikirche. Und er macht auch keinen Hehl daraus, diese traditionellen Instrumente zu lieben – mit ihrer Schwergängkeit und ja, der Mühe, die man sie machen beim Spielen. „Das Schwere muss mit Leichtigkeit gespielt werden“, beschreibt der Nikolaikantor seine hohe Kunst: „Orgelmusik will ja nicht erschlagen – sie will ergreifen. In dieser Musik schwingt eine transzendale Komponente natürlich immer mit: Allein schon dieser ewige Ton der Orgel!“ Und nach einer Pause ergänzt Lucas Pohle: „Natürlich bin ich Kirchenmusiker – da spielt der geistliche Aspekte eine große Rolle.“

Aber es definiert eben auch seine Rolle als „Zusammenbringer“, dass diese Aspekte niemals im Widerspruch zu einer Offenheit stehen können. „Musik braucht Mut zum Risiko“, sagt er selbstbewusst: „Oder anders gesagt: Man darf bei Musik nicht vorsichtig sein. Es ist wie bei einem Redner, der ängstlich ist – er kann nicht überzeugen. Und eigentlich ist es doch eine schöne Erkenntnis: Wir sind nicht perfekt – wir müssen uns immer den Möglichkeiten anpassen, um das Beste daraus zu machen.“ Jens Wagner

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