Die Leipzigerin Christel Lehmann hat ein Buch über das Leben im Rollstuhl geschrieben. Sie musste erst lernen, mit dem elektrischen Gefährt zurecht zu kommen. Foto: André Kempner

Leipzig. Sie trägt ein knallblaues T-Shirt, auf dem Kopf einen Strohhut – und ihren Rollstuhl hat sie mit gelben Kunstblumen geschmückt. Vor allem für diese Deko bekommt Christel Lehmann öfter ein kleines Lächeln geschenkt oder ein nettes Wort. Und: Die Blütenzier bringt ihr fröhliches Gemüt zum Ausdruck. Denn das, sagt die 77-Jährige, habe sie trotz der Einschränkung nicht verloren.

Seit sieben Jahren ist die Leipzigerin auf den Rollstuhl angewiesen. Sie leidet schon viele Jahre an Rheuma, dann kam eine Muskelerkrankung hinzu. Seitdem kann sie draußen nicht mehr laufen, vor allem, wenn der Untergrund uneben ist – und braucht den Rollstuhl. „Ich muss von meiner Freiheit immer ein Stückchen mehr abgeben.”

Vor zwei Jahren hat Christel Lehmann über sich und ihren Rollstuhl ein Buch geschrieben. Die Botschaft, die sie darin vermitteln will: „Mein Leben ist trotzdem lebenswert und schön.” Sie habe Bekannte, die ebenfalls nicht mehr laufen können. „Einige sitzen nur noch zu Hause und jammern. Ich will versuchen, diesen Menschen Mut zu machen.”

Früher fuhr Christel Lehmann viel Fahrrad. Diese Mobilität hat sie durch den Rollstuhl wiedererlangt. „Der Rollstuhl ist jetzt mein Fahrrad.” Woher ihre ungetrübte Lebensfreude kommt, weiß sie selbst nicht genau. Vielleicht sei diese von ihrem Vater vererbt.

In ihrem Buch will Lehmann diese Lebenslust weitergeben. Sie versammelt dort verschiedene Anekdoten, die mit dem Rollstuhl zu tun haben: Einmal steht sie an einer Haltestelle ohne Regenschutz und es gießt in Strömen. „Auf einmal spannt sich über mir ein Regenschirm auf. So was hab ich noch nie erlebt”, erzählt sie und lächelt. Solche freundlichen Gesten begegnen ihr im Alltag immer wieder.

Doch auch negative Erlebnisse haben Eingang ins Buch gefunden: Einmal hat die Seniorin es eilig, in die Stadt zu fahren. Sie will unbedingt noch die Straßenbahn erreichen und drückt so fest es geht auf den Joystick ihres elektrischen Rollstuhls. „Ich wurde aber nicht schneller. Die Straßenbahn fuhr davon.” Als sie schließlich mit einer zufällig neben ihr stehenden Frau in die nächste Tram hineinrollt und einen anderen Rollstuhlfahrer freundlich grüßt, ruft dieser der Frau zu: „Wo will die Oma denn aussteigen?“ Christel Lehmann ist so perplex, dass sie dem Mann kein Paroli bietet. „Konnte er nicht mit mir reden?“, sagt sie rückblickend. Ein anderes Mal bekommt sie die Tür zu ihrer Physiotherapiepraxis nicht allein auf. Fällt eine Tür von selbst ins Schloss und lässt sich diese nur nach außen öffnen, haben Rollstuhlfahrer praktisch keine Chance, diese selbstständig zu öffnen. Also bittet die Leipzigerin eine Frau um Hilfe, die etwa zehn Schritte entfernt steht. Doch diese entgegnet: „Ich bin doch kein Türöffner.” Trotz solcher Erlebnisse betont Christel Lehmann, dass die positiven Reaktionen überwiegen. Manche Menschen seien sogar übermäßig engagiert und böten Hilfe an, wenn sie diese gar nicht benötigt.

Doch wie ist es, in einer Stadt wie Leipzig auf vier Rädern unterwegs zu sein? Wie rollstuhlfahrerfreundlich ist die Messestadt? Christel Lehmann überlegt eine Weile und sagt dann mit Bedacht: „Ich bin froh, dass ich heutzutage lebe. Vor 30 oder 40 Jahren wäre ich nicht so gut zurechtgekommen.” Seit der Wiedervereinigung habe sich in Leipzig viel getan; vieles wurde für Rollstuhlfahrer verbessert. Doch natürlich gebe es noch Luft nach oben.

Ein Problem seien die vielen unebenen Fußwege. „Jede Unebenheit des Bodens kriege ich über meine Wirbelsäule mit.” Nach längeren Fahrten schmerzt ihr Rücken. An Überwegen fehlten oftmals Absenkungen und vor allem Baustellen seien ein großes Problem. Als kürzlich in der Lützner Straße gebaut wurde, stand die Rentnerin täglich vor der Frage: „Komme ich da lang?” Sie schaffte es nicht, mit dem Rollstuhl über die Schienen zu gelangen, musste große Umwege in Kauf nehmen. Es ärgert sie außerdem, dass bestimmte Gebäude in der Stadt nicht barrierefrei sind. Im frisch sanierten Aquarium im Zoo etwa können Rollstuhlfahrer den oberen Bereich mit dem großen Panoramabecken nicht ansteuern. Der Behindertenverband protestierte. Passiert sei bisher nichts.

Wenn Christel Lehmann ihre Wohnung in Grünau verlässt, muss sie stets vorab überlegen, mit welchem Verkehrsmittel sie wohin kommt und an welcher Haltestelle sie aussteigen kann. „Mein ganzes Leben ist Planung”, sagt sie. „Einfach so in den Tag rein leben, das geht nicht.” Lehmann lobt, dass inzwischen an vielen Bahnsteigen Erhöhungen gebaut wurden. Es gebe aber immer noch viele Haltestellen, an denen der Unterschied zwischen Bahn und Bahnsteig ziemlich groß sei. Dann kann es passieren, dass sie sich mit dem Rollstuhl dazwischen verkeilt.

Alte Straßenbahnen sind ein Problem

Ein Problem seien auch die historischen Tatrabahnen, die noch immer im Einsatz sind und in die die Fahrgäste nur über Stufen hineingelangen. An diese Bahnen wird zwar jeweils ein Niedrigflurwagen gekoppelt. Doch: In diesen wollen dann alle rein, die woanders nicht einsteigen können: Rollstuhlfahrer, Eltern mit Kinderwagen, Fahrradfahrer.

Ab und an macht die unternehmungslustige Frau auch größere Ausflüge aus der Stadt heraus. Dann fährt aber eine Freundin mit, um ihr – falls nötig – zu helfen. In Dresden kam sie kürzlich an einem Bahnhof an, an dem der Fahrstuhl defekt war. 40 Treppenstufen führten zum Ausgang. Die Freundin ging schließlich nach unten und sprach zwei Männer an. Sie trugen die Leipzigerin hinab. „Allein wäre ich aufgeschmissen gewesen.”

Christel Lehmann ist häufig auf die Hilfe anderer angewiesen. Doch sie habe generell kein Problem damit, um Unterstützung zu bitten, sagt sie. Ein Pflegedienst hilft ihr im Alltag, schaut regelmäßig bei ihr vorbei. In ihrer Wohnung lebt die Rentnerin seit dem Tod ihres Mannes vor 21 Jahren allein.

Berlinerin zieht der Liebe wegen nach Leipzig

Blick zurück: Christel Lehmann wächst in Berlin auf, zieht 1975 der Liebe wegen nach Leipzig. Anfangs wohnt das Paar in der Nordstraße, direkt am Autostrich, erzählt sie. Dann folgt der Umzug nach Anger-Crottendorf und 1980 – nach der Geburt ihres Sohnes – in eine größere Wohnung in Grünau. Mit dem Viertel ist sie bis heute zufrieden. Es sei sehr grün, es gebe viele kleine Fußwege zwischen den Blöcken. Viele Jahre arbeitet Christel Lehmann als Ökonomin in der Robert-Koch-Klinik, führt Anfang der Neunzigerjahre dort die PCs mit ein. Seit 1996 ist sie wegen ihrer Erkrankung in Rente.

Seitdem hat sie noch mehr Zeit für ihre vielfältigen Interessen – Konzerte besuchen und singen zum Beispiel. Mit dem Oratorienchor des Leipziger Gewandhauses stand sie 2015 beim Classic Airleben das letzte Mal auf der Bühne. Heute singt sie noch im Grünauer Frauenchor. Außerdem ist sie Mitglied im „Club der Nachdenklichen”, der vor 24 Jahren auf Initiative ihres Mannes gegründet wurde. Darunter versteht sich eine lose Gemeinschaft von etwa zehn bis 18 Leipzigerinnen und Leipzigern, die sich einmal im Monat treffen, um über bestimmte Dinge zu diskutieren. Besprochen wurden Themen wie „Was ist Glück?“, „Die Geschichte der Demokratie“, „die Klimakatastrophe“ bis hin zum Dosenpfand. „Man kann sagen: Wir reden über Gott und die Welt“, sagt Christel Lehmann.

Und dann liest die Autorin natürlich immer mal wieder an bestimmten Orten aus ihrem Buch. Kürzlich hat sie der Leipziger Senioren Computer Club eingeladen. Sie würde ihr Buch auch gern in Schulklassen vorstellen, um über das Thema Rollstuhl im Unterricht zu sprechen.

Ihr erstes Werk hat Lehmann selbst lektoriert, gelayoutet und in einer Auflage von 150 Stück drucken lassen. Die Illustrationen fertige ein Freund nach ihren Vorstellungen an. Doch die Rollstuhlfahrerin hat festgestellt, es gibt noch etliches zu erzählen. Deshalb plant sie bereits ein zweites Buch mit weiteren Anekdoten aus ihrem Leben. Wenn sich dafür ein Verlag interessiert, würde sie das sehr freuen. Und wenn nicht, dann bringt sie das Ganze eben wieder auf eigene Faust heraus. Christel Lehmann lacht. Da ist sie wieder, die große Lebensfreude, die sie ausstrahlt.

Wie sehen die Pläne der 77-Jährigen für die Zukunft aus? „Sterben muss ich noch nicht”, antwortet sie prompt. „Ich kann ja noch ein bisschen das Leben genießen.” Gina Apitz

Wer ein Exemplar von Christel Lehmanns Buch „Abschied und Neubeginn – Mein neues, aktives Leben im Rollstuhl“ bekommen möchte, kann ihr eine E-Mail schreiben an: christelwl@o2online.de. Das Buch kostet 8 Euro, plus Portogebühren und wird von ihr persönlich zugeschickt.

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