Einen Monat lang war Jaromír Typlt in Leipzig zu Hause. „Ich finde etwas, das ich kenne, in einem vollkommen anderen Umfeld“, sagt er mit Begeisterung über die Messestadt. Fotos: A. Typltová

LEIPZIG. Dieser Oktober 2018 war ein Monat, der viele Erinnerungen weckte. „Ich habe mich ziemlich oft wie im Prag in den 90er-Jahren gefühlt“, erzählt Jaromír Typlt – Dichter, Schriftsteller, Übersetzer, Kurator und eben auch Sozialarbeiter aus der „Goldenen Stadt“.

Für diesen einen Monat hatte er in Leipzig eine neue Residenz gefunden – dem deutsch-tschechischen Residenzprogramm zur anstehenden Buchmesse 2019 sei Dank. Es war eine spannende, aufregende Entdeckungsreise für den 45-Jährigen – hin zum Leipziger „Jahrtausendfeld“ beispielsweise. An einen Ort, an dem er eben jene Wildheit und Freiheit wiederfand, die ihn einst in seiner nordböhmischen Heimat so nachhaltig inspiriert hatte. „Ich war sofort begeistert von dieser künstlerischen Atmosphäre an diesem wilden Ort“, und er schwärmt von den Graffiti an den Hauswänden, der geradezu greifbaren multikulturellen Kreativität im Leipziger Westen. Es sei, überlegt er, tatsächlich ein wenig wie im „Podkrkonoší“, dem Riesengebirgsvorland – ungezähmt, vielleicht auch ein wenig gefährlich, „aber hier eben mitten in der Stadt und nicht in der Natur“.

Aber es gibt eben auch noch eine anderen Punkt, der diese Tage in Leipzig für den tschechischen Dichter so wichtig macht. Nüchtern, aber bestimmt erzählt Jaromír Typlt davon, dass die Kunst und Kultur es schwer hat in der tschechischen Republik des Jahres 2018. Und davon, dass so viele Künstler erschöpft sind ob dieser Situation. Es ist sicherlich das Spannende an dieser Idee der Residenzen, das man so viel voneinander lernen kann – über den Alltag im Nachbarland, das geprägt ist vom Problem der Zwangsvollstreckungen („Jeder zehnte Tscheche steckt in so einem Verfahren.“), auch davon, dass tschechische Künstler das Gefühl haben, verschwunden zu sein aus dem europäischen Denken „seit dem Tag, an dem wir Teil der Europäischen Union geworden sind“. Spannende Gedanken, gedacht aus einer ganz anderen Perspektive.

Die Perspektiven oder besser gesagt der Wechsel dieser Perspektiven ist für Jaromír Typlt immer wieder ein wichtiges Thema. Das erwähnte „Schwerhaben“ in der Heimat führt dazu, dass er in Prag im sozialen Bereich arbeitet. Was aber auch wieder seine Lyrik, sein Schreiben befruchtet. „Man muss die Schattenseiten der Gesellschaft kennen, um die Entwicklungen der heutigen Zeit zu verstehen“, ist er überzeugt – und er kennt sie nur zu gut, die Obdachlosen in Prag. Und die seelisch kranken Menschen: „Aber in den Gesprächen mit diesen Menschen habe ich so viele Dinge für mein Leben gefunden.“

Andererseits hängt die Lust am Perspektiv-
wechsel auch mit seiner Leidenschaft für Sprache zusammen – oder besser gesagt für Sprachen. „Die Faszination der Etymologie“, sagt er lächelnd und berichtet davon, dass sich das tschechische Wort
für Sch… sprachwissenschaftlich auf „Samsara“, den Sanskrit-Begriff für den ewigen Zyklus des Seins, zurückführen lässt. „Manchmal kommt es tatsächlich vor, dass ich Worte aus meiner eigenen Sprache wie eine andere Sprache fühle“, und er beschreibt, wie er arbeitet mit der Bedeutung von Worten, der Doppeldeutigkeit oder auch dem Klang: „Meine Gedichte sind tief in der tschechischen Sprache verwurzelt, aber die Kenntnis der deutschen oder französischen Sprache spielt da schon eine große Rolle.“

Dies ist vielleicht der größte Unterschied zwischen jenem Jaromír Typlt, der im Alter von 16 Jahren seinen ersten Gedichtband veröffentlichte, und dem Mann, der im Oktober für vier Wochen seine Zelte in Leipzig aufgeschlagen hatte. „Das Schreiben wird immer schwerer“, überlegt er: „Ich bin in einer Hinsicht sehr empfindlich – immer dann, wenn ich das Gefühl habe, mich zu wiederholen. Na ja, ich bin sehr selbstkritisch.“ Deshalb – daraus macht er keinen Hehl – wird es sicher keinen Band mit „Leipzig-Gedichten“ geben. Einfach, weil er simple Situationsbeschreibungen nicht mag. Jede Menge Input mitgenommen hat er trotzdem – sei es aus der „Faust“-Inszenierung am Schauspiel, die ihn entführte in die verschwundenen Dörfer rings um Leipzig. Wieder ein spannendes Déjà-vu: „So etwas kenne ich aus meiner Kindheit in Nordböhmen eben auch.“

Vielleicht wird auch dieses Erlebnis Eingang finden in seine so große Sammlung an Schreib-Fragmenten. „Aber es ist schwer, daraus etwas zu schaffen“, beschreibt er: „Das beste Gefühl beim Schreiben habe ich, wenn ich das Gedicht gewissermaßen finde.“ Und nach einer Pause ergänzt Jaromír Typlt: „Wenn man gut dichtet, muss es sich wie Wahrheit anfühlen.“ Andererseits gebe es da ja auch noch etwas, was über seine ganz individuelle literarische Arbeit hinausgeht: „Diese Tatsache, dass Tschechien das Gastland der Leipziger Buchmesse ist, ist ein Signal. Eine Hoffnung für viele erschöpfte Künstler.“ Und er spricht mit Leidenschaft von einer lebendigen Lyrik im Nachbarland, die es einfach zu entdecken gilt. Nun, Jaromír Typlt will im kommenden Jahr seinen Beitrag leisten – mit einer Performance, mit der Verbindung aus Wort und Musik: „Es ist eine wunderbare Chance, im Ausland tschechisch zu sprechen.“ Einen letzten Appell hat er auch noch, mit Blick auf das „Jahrtausendfeld“: „Diese Freiheit, die Wildheit muss man verteidigen.“ Jens Wagner

 

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