„Einer sprengt sich immer seine Hand weg”

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Im Einsatz trägt Notfallsanitäter Sven Bartsch vorgeschriebene Arbeitskleidung. Diese ist brandschutzsicher und hat Reflektorstreifen für die bessere Sichtbarkeit im Dunkeln. Zur Ausrüstung gehören noch Sicherheitsschuhe. Foto: André Kempner

Leipzig. Dieses Jahr konnte Sven Bartsch am 31. Dezember in Ruhe ein Glas Sekt trinken. Er hatte dienstfrei. Doch an die Silvesternacht im vergangenen Jahr erinnert sich der Leipziger Notfallsanitäter noch gut. „Es passierten viele krasse Sachen zeitnah”, lautet seine Bilanz. „Einer ist mit 100 Kilometern pro Stunde gegen eine Betonwand gefahren, ein anderer hat sich die Hand weggesprengt und ein Dritter das Bein von der Straßenbahn abfahren lassen – das passierte alles innerhalb einer Stunde.” In solchen Fällen komme auch die Leitstelle an ihre Grenzen. Nachts stehen nicht so viele Notärzte zur Verfügung wie tagsüber. Bartsch und seine Kollegen hatten alle Hände voll zu tun.

Zugegeben: Die Silvesternacht ist für den Rettungsdienst jedes Jahr eine Ausnahmesituation. Generell übernimmt Sven Bartsch diesen Dienst aber gern, obwohl so viel los ist. „Ja, es passieren Unfälle”, sagt er. Davon könne man ausgehen. „Einer sprengt sich immer seine Hand weg.” Solchen Menschen zu helfen, dafür sei er nun mal da, so der 37-Jährige.

Seit 14 Jahren fährt Bartsch im Rettungswagen für das Deutsche Rote Kreuz durch die Messestadt. Zwölf Stunden dauert eine Schicht in der Regel. Wenn der gebürtige Hallenser morgens um 6 oder 7 Uhr zum Dienst erscheint, trinkt er erstmal eine Tasse Kaffee – „eine kleine Droge, die ich einfach brauche”. Jedenfalls, wenn er dazu kommt und nicht sofort der Pager piept. Geht ein Notfall ein, schickt die Leitstelle eine knappe Info auf das Gerät, meistens ist das nur ein Schlagwort wie „bewusstlose Person”.

Was die Retter vor Ort erwartet, kann sehr unterschiedlich sein, spricht er aus Erfahrung. Er müsse auf alles gefasst sein. Einmal wurden er und sein Kollege zu einem Fahrradsturz gerufen. Vor Ort stellte sich heraus, dass der Mann aus dem vierten Stock eines Hauses gefallen war und nur auf einem Fahrrad gelandet war. „Aufgrund der Verletzungen war sofort klar, dass das kein Sturz vom Fahrrad gewesen sein kann”, erinnert sich Bartsch an den Einsatz: „Hier kam jede Hilfe zu spät.” Es ist sein Bauchgefühl und die jahrelange Erfahrung, auf die er sich vor Ort verlässt. Ein Bürojob, sagt er, wäre nichts für ihn. Er brauche die Abwechslung. „Jeder Tag ist anders. Man weiß nie, was passiert.”

Wenn der Rettungswagen zu einem Einsatz ausrückt, sitzen dort zum einen Sven Bartsch als Notfallsanitäter und ein Rettungssanitäter, der das Fahrzeug steuert. Manchmal ist noch ein Auszubildender dabei. Im Notfall düst das Team mit Blaulicht durch die Stadt. Die Retter nutzen zwar ein Navi. Doch gute Ortskenntnis ist wichtig. Oftmals müssen sie mit Hilfe von Schleichwegen Staus umfahren – gerade im Berufsverkehr. „Ich brauche um 7 Uhr morgens nicht über die B2 fahren”, gibt Bartsch ein Beispiel. Da sei auch für den Rettungswagen kein Durchkommen.

In zwölf Minuten am Einsatzort

Theoretisch muss dieser innerhalb von zwölf Minuten vor Ort sein. „In 80 Prozent der Fälle schaffen wir das aber nicht”, räumt der Sanitäter ein. Das liege nicht unbedingt am dichten Verkehr, sondern an den weiten Strecken, die sie zurücklegen müssen. Bartsch sagt: „Es gibt definitiv viel zu wenig Rettungswagen.” Dadurch muss das Team kreuz und quer durch die Stadt rasen. „Wenn ich gerade in Grünau bin und werde nach Lindental geschickt, kann ich das in zwölf Minuten nicht schaffen. Das ist utopisch.”

Zum Glück sind es nicht immer Notfälle, zu denen die Retter gerufen werden. Häufig fahren sie zu Stammpatienten. „Wir werden in 80 Prozent der Fälle zu Bagatellen gerufen”, stellt Bartsch klar. Darunter sind Lungenerkrankte, die schlechter Luft bekommen oder ältere Damen, die wegen zu hohen Blutdrucks die 112 anrufen. Immer wieder melden sich auch Leute, die Obdachlose auf der Straße liegen sehen – und unsicher sind, ob es ihnen gut geht. Bei Minustemperaturen kann es lebensbedrohlich sein, draußen zu schlafen. „Die meisten Obdachlosen in Leipzig kennen wir”, sagt der Sanitäter. Vor Ort entscheiden die Retter dann, wie akut das Problem ist. Besteht ein Patient darauf, fahren sie ihn ins Krankenhaus. Oft sei aber eine Behandlung vor Ort ausreichend – und manchmal schon ein offenes Ohr.

Neben dem Alltagsgeschäft gibt es echte Notfälle, die auch Sven Bartsch an die Nieren gehen. Geburten zählen dazu oder das Wiederbeleben von Babys und Kleinkindern. „Es gibt Ausnahmetage, da hat man drei Wiederbelebungen in zwei Stunden.” Und manchmal häufen sich die Anrufe aus der Leitstelle, die das Team in die Gegend rund um die Eisenbahnstraße schickt – zu Schuss- oder Messerstichverletzungen. In solchen Fällen wird zusätzlich ein Notarzt zum Unfallort beordert. „Manchmal sieht man die Verletzung von außen gar nicht”, sagt Sven Barsch. Aber es kann sein, dass der Patient innere Blutungen hat, die lebensgefährlich sein können. „Eine Stichverletzung sieht nicht aus wie im Film”, weiß der Fachmann. „In manchen Fällen konnte ich Leben retten, in anderen war es zu spät.”

Doch wie kommt er mit solchen Einsätzen zurecht, bei denen er nicht mehr helfen kann und zusehen muss, wie Menschen sterben? Es sind bestimmte Glaubenssätze, die ihm bei der täglichen Arbeit helfen. Seine Oma hat ihm einmal gesagt: „Es gibt an allem Negativen auch etwas Positives.” Den Tod von Kindern versuche er nicht allzu nah an sich heranzulassen. Und hinzu kommt die Gewissheit: „Ich habe alles getan, was ich tun konnte.” Das hilft, mit schweren Einsätzen fertig zu werden. Im Team sprechen die Kollegen im Nachhinein über bestimmte Einsätze. Wer will, kann mit einem professionellen Berater aus der Krisenintervention reden. Bartsch hat dieses Angebot bisher nicht angenommen.

Einsätze, die den Sanitäter beschäftigen

Er sagt, es seien auch alltägliche Einsätze, die ihm mitunter ans Herz gehen. „Wenn wir zu älteren Damen fahren, die völlig allein sind und um die sich keiner kümmert, das finde ich belastend.” Und er hat eine Entwicklung bemerkt: „Seit der Coronapandemie nehmen die Bagatellanrufe exorbitant zu.” Während der Lockdowns wollte so gut wie niemand ins Krankenhaus oder zu einem Arzt gehen, sagt er. „Die Leute wollten nicht aus der Wohnung raus. Und wir sind die einzigen, die in die Wohnung kommen.”

Ab und zu müssen die Sanitäter – meist bei Gewaltverbrechen – in Gerichtsprozessen auftreten oder bei der Polizei als Zeuge aussagen. „Wir sind meistens die, die als erstes eintreffen nach dem Täter”, sagt Bartsch. Manchmal glauben Angehörige, dass die Sanitäter Fehler begangen haben – etwa beim Tod eines Angehörigen. Auch dann kann es zu einem Prozess kommen. Auch das gehört zum Alltag als Notfallsanitäter.

Dass der Hallenser heute im Rettungswagen durch Leipzig fährt, ist einigen Zufällen geschuldet. Denn ursprünglich steuerte Bartsch Züge durchs Land. Nach seinem Realschulabschluss 2001 zieht er mit 16 Jahren von zu Hause aus und lässt sich in Mannheim zum Lokführer ausbilden. „Ich habe in drei Jahren drei Leute totgefahren”, sagt er. Es ist das Horrorszenario jedes Lokführers – und passiert doch immer wieder. Bartsch sagt heute, er komme damit zurecht. „Ich konnte ja nichts dafür.”

Doch die Bahn regt ihn damals dazu an, die Profession zu wechseln. Die psychische Belastung sei zu groß. Bartsch kehrt nach Halle zurück und überlegt, was er künftig machen soll. Er arbeitet zwischenzeitlich im Gas-Großhandel und bei der Stadtreinigung. Dann absolviert er seinen Zivildienst in der Notaufnahme eines Krankenhauses, schließt ein Praktikum in einer Klinik in Gera an und merkt: „Das ist genau das, was ich machen möchte.” Nach 14 Jahren im Rettungswagen sagt Sven Bartsch: „Ich kann nicht die Welt retten, aber manchmal bin ich zur richtigen Zeit am richtigen Ort.” Und oft genug kann er Menschen helfen – ein „gutes Gefühl”.

Wenn er gerade keinen Dienst hat, unternimmt er meist etwas mit seinem vierjährigen Sohn, der den Hallenser Tierpark liebt. „Junior steht ganz oben”, sagt der alleinerziehende Vater und gibt zu: „Ich hab kaum Zeit für mich.” Wenn er doch mal ein paar freie Stunden findet, verbringt er die entweder in der Sauna oder aber mit Kumpels im Stadion. Bartsch ist Fan des Halleschen FC. Und dann hat er noch eine Leidenschaft, die zumindest teilweise deutlich zu sehen ist. Seine Arme und den Oberkörper zieren diverse Tattoos, die ihm ein Freund gestochen hat. Ein Weg durch einen Wald ist zu erkennen, ein Kompass, das Konterfei seines Sohnes und ein Traumstrand. Letzteren gibt es auch im realen Leben, nämlich auf Fuerteventura. Für Sven Bartsch ein Sehnsuchtsort, zu dem er regelmäßig hinfliegt. Vielleicht schon im Januar wieder – als kleine Auszeit vom Job als Lebensretter. Gina Apitz

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