Im Juni 2021 ist für Charlotte Wilde und Stefan Wenzel so manches noch anders als gewohnt - davon zeugen die Hygieneregelungen an der Westflügel-Wand, aber für die beiden Theatermacher ist eines wichtig und spannend: "Auf einmal ist eine ganz andere Energie da." Was man ab 3. Juni 2021 auch spüren soll ... Foto: Jens Wagner

Leipzig. Irgendwie interessant – mit jenem Stück „Krabat“, das einst am 13. März 2020 die so lange Pandemie-Durststrecke einleitete, stand man dieser Tage in der Schweiz endlich mal wieder live auf der Bühne. „Ich war ganz schön erstaunt, wie leicht es doch ging“, überlegt Stefan Wenzel mit dem Blick auf diese Erfahrungen. Und Charlotte Wilde ergänzt: „Neulich im Familien-Zoom wurde ich auch gefragt, wie es mir nun gehe und ich war ehrlich gesagt ein wenig sprachlos: Ich wusste nicht, was ich sagen sollte …“ Immerhin: Das Gastspiel in der Schweiz war ein perfekter Warmmacher für den Showcase im Leipziger Figurentheater Westflügel, mit dem ab 3. Juni endlich Geburtstag (nach-)gefeiert werden soll.

Ach je, diese schier unendliche Geschichte! Seit über einem Jahr wird schon gebastelt an dem Programm für diesen Geburtstag, den 15. immerhin. Der ja eigentlich längst vorbei ist, weshalb die große künstlerische Party auch angesetzt war für den Oktober 2020. Da, so erzählt Charlotte Vogel, hatte man noch den Plan, möglichst viele Künstlerinnen und Künstler im Leipziger Westflügel und am besten auch darüber hinaus auf die Bühne zu bringen. Diese ganze, irgendwie auch imaginäre und dennoch reale Ensemble an Menschen rund um das Figurentheater, das sich da geformt hat in den letzten Jahren mit dem Westflügel in Lindenau als künstlerischen Zentrum, über Stadt- und Ländergrenzen hinweg. Alle Leute, die mit dem Haus verbunden sind, sollten zusammenkommen, zusammenspielen, zusammenfeiern, erklärt Charlotte Wilde, als Teil von Wilde & Vogel gewissermaßen Gründungsmitglied des Hauses. „Der große Plan war, dass wir unsere gemeinsamen Stücke auf die Bühne bringen“, überlegt sie. Und Stefan Wenzel – inzwischen mit Lehmann und Wenzel längst ein unverzichtbarer Teil der Westflügel-DNA – ergänzt: „Zuletzt mussten wir sehr kurzfristig viel umplanen – der enge Takt der Aufführungen wäre ein großes Problem geworden. Und wir hätten auch viel mehr Personal gebraucht – also haben wir das Showcase-Programm kurzerhand ein Stück weit entzerrt.“

Am grundsätzlichen Gedanken des Miteinander-Spielens, des Zusammenkommens hat sich aber nichts verändert, die Dimensionen sind halt etwas kleiner. Aber neben Wilde & Vogel und Wenzel und Lehmann werden Christoph Bochdansky aus Wien dabei sein, die Cie. Off Verticality aus Linz ebenso wie flunker produktionen, dazu Jan Jedenak, Gwen Kyrg, Franziska Merkel und etliche mehr – einfach, weil dies nun einmal klassischer Westflügel-Style ist. Weil jeder, der mal hier war, auch wiederkommen möchte. Auf der Suche nach den Ursachen wird man auch schnell fündig in der puren Existenz des Hauses, das einst als „Kleiner Saal“ der „Gesellschaftshalle zu Lindenau“ vor mehr als 120 Jahren gebaut wurde. Und das seinen ganz eigenen Charme hat, wie Stefan Wenzel erzählt: „Es zählt nun mal zu den Grundlagen der Arbeit, dass die Produktionen im Haus entstehen. Und es ist alles andere als üblich, dass man gesamten Prozess mit den Proben auf jener Bühne, in jenem Raum gestalten kann, auf der und in dem man dann auch vor Publikum spielt.“ Und mit einem Lächeln ergänzt er: „So darf man sich sehr intensiv mit diesem Haus, mit dem Raum auseinandersetzen.“ Was auf jeden Fall und unbedingt die Fantasie anregt, berichtet Charlotte Wilde.

Damit ist der Westflügel schon ein ganz besonderes Theater. Mit genügend Raum für das Nicht-Funktionale, für das Experiment, aber auch für einen Entwurf von Gemeinsamkeit, der über das pure Miteinander-Arbeiten hinausgeht. „Am Anfang hatten wir keine Vision, kein Konzept“, erzählt Charlotte Wilde: „Wir haben einfach angefangen, die Konzepte und Visionen kamen beim Tun.“ Umso wichtiger waren eher die Rahmenbedingungen des Tuns: „Da hat man schon seine eigenen Maßstäbe, die Dinge, die einem persönlich wichtig sind – mit dem Fokus auf eine faire Zusammenarbeit und dies auf eine hierarchiearme Art und Weise.“ Später bringt sie dies noch einmal auf den Punkt: „Eigentlich ist der Westflügel ein Künstlerhaus. Und es macht eine Menge aus, wenn die Künstler-Perspektive nicht ausgeblendet wird.“

Was durchaus auch den ein oder anderen Reibungspunkt mit sich bringt. Momente, in denen es „ordentlich zur Sache geht“, wie Stefan Wenzel still lächelnd erklärt: „Am Westflügel gibt es nicht nur eine Stimme, nicht nur eine Sichtweise – was es manchmal schwierig macht.“ Klingt nach schwierigen Augenblicken, beim ersten Hinhören. Aber Charlotte Wilde ordnet es noch einmal genauer ein: „Wir stellen immer wieder fest, wie unglaublich einig wir uns alle in vielen Dingen sind – eigentlich sind es meist eher die Kleinigkeiten, an denen sich Diskussionen entzünden.“ Das Positive überwiegt auf jeden Fall – diese bemerkenswerte Situation einer kreativen Freiheit. Was wiederum Stefan Wenzel, der erst einige Jahre nach der Gründung an den Westflügel kam, ziemlich gut einschätzen kann: „Es war schon sehr spannend zu sehen, was alles möglich ist an diesem Haus. Und daraus den Antrieb zu ziehen, seine Stücke auf bestmögliche Art und Weise umzusetzen. Weil ich in diesem Prozess der gegenseitigen Inspiration auch ständig Stellung beziehen muss, nehme ich dies automatisch mit auf die Bühne.“

In diesem Umfeld eines – auf den ersten Blick – von außen beinahe unscheinbar wirkenden Hauses mit dem berührenden Charme eines gewissen Rohzustands (was nicht immer eine Lust ist, Charlotte Wilde berichtet davon, was man alles mal machen müsse am Dach, an der Fassade, am Keller) ist damit etwas gewachsen in den 15, Pardon, inzwischen ja 16 Jahren, das eine Strahlkraft weit über die Stadt- und Ländergrenzen hinaus entwickelt hat. Diese Definition vom imaginären, aber dennoch irgendwie realen Westflügel-Ensemble ist ja nicht aus der Luft gegriffen: Jene Theatermacherinnen und -macher, die einmal zu Gast waren in Lindenau, kommen gern wieder. Zu gern. „Das ist das eigentlich Beglückendste“, meint Stefan Wenzel: „Mit anderen Leuten zusammenzuarbeiten bei einem Stück. Und dann später zu sehen, wie diese dann auch bei einem ganz anderen Stück in der zweiten Reihe sitzen.“

Dieses Über-Die-Grenzen-Hinaus-Denken steckt einfach drin, auch in jenen Tagen der Corona-Pandemie, die Charlotte Wilde so wunderbar treffend mit dem Begriff „aktive Lethargie“ beschreibt. Natürlich war es für die Westflügel-Macher eine Selbstverständlichkeit, den Künstlerinnen und Künstlern trotz Ausfall die Gagen zu zahlen. Weil es – da wiederum spricht aus Charlotte Wilde die Theatermacherin, die genau weiß, wie es hinter den (finanziellen) Kulissen abgeht – für Häuser wie den Westflügel dank der Unterstützung durch die öffentliche Hand kein Problem sei. Da geht es um Fairness, um Verantwortung, auch um den Blick in die Zukunft – so ein Figurentheater mit hohem Anspruch kann nur funktionieren, wenn es auch noch Figurentheaterspielerinnen und -spieler gibt.

Es berührt einen schwierigen Punkt – das Nachdenken über auf das Aufgeben. Und Stefan Wenzel räumt ein, noch vor ein paar Monaten tief drin gewesen zu sein im Loch. Im Februar sei dies gewesen, eine Zeit ohne Silberstreif am Horizont. Aber es gibt noch so viel zu spielen. Meint auch Charlotte Wilde, die zu dem Thema eine klare Meinung hat: „Im letzten Sommer war ich schnell über diese Phase des Aufhören-Wollens hinweg: Ich hatte nur mal kurz über Alternativen nachgedacht und da war schnell klar: Och, da mache ich doch lieber weiter.“

Was nun nicht bedeutet, dass die Beiden nicht schon auch ein paar Sorgen haben beim Blick in die Zukunft. Wohl weniger um den eigenen Westflügel, sondern eher um den Stellenwert von Kultur im Allgemeinen und Theater im Besonderen. „Ja, viele Menschen haben gespürt, wie wichtig Kultur ist. Aber manchmal habe ich das Gefühl, die Gesellschaft als solche sieht sie schon als Sahnehäubchen auf dem Ganzen“, überlegt Charlotte Wilde und sagt dann mit großer Ehrlichkeit: „Ein wenig habe ich schon die Angst, dass es zur Gewohnheit wird, dass es eben kein Theater mehr gibt.“

Für den Westflügel ist der Neustart hingegen gelungen, die ersten Vorstellungen mit (echtem!) Publikum sind gut gelaufen. „Und der Showcase wird die Probe aufs Exempel“, sind sich die Beiden einig. Die zur rechten Zeit kommt – diese „aktive Lethargie“ hatte ordentlich gezehrt. Weil man irgendwann auch feststellen musste, dass Live-Streams nun mal nicht das sind, was Figurentheater a la Westflügel auszeichnet. Bei allem (gelebten) Willen für das Präsenz-Zeigen, was das Leipziger Haus manchmal sogar in ein höchst prominentes Umfeld gespült hatte (man stand in einer Link-Empfehlungsliste der Thüringer Landesregierung mit Livestream-Angeboten mal neben der Wiener Staatsoper, der Met in New York und der Staatsoper Unter den Linden in Berlin): „Man sollte sich auf das konzentrieren, was wir können. Und dies sind nicht in erster Linie die Livestreams.“ Eher schon das erlebbare Theaterspielen in einem kleinen, beweglichen, flexiblen Haus …

Wie schon gesagt – Angst um das eigene Spielen ist da nicht zu spüren. Eher schon die Freude darüber, dass man es immer noch kann. Mit jener von Charlotte Wilde erwähnten „ganz anderen Energie“ als vor der Pandemie. Auch mit einer gewissen Leichtigkeit im Spiel, die Stefan Wenzel beobachtet hat beim „Krabat“ in der Schweiz. „Ich hatte ohnehin nie die Angst, dass das Publikum meine Stücke nicht sehen will“, überlegt Charlotte Wilde: „Meine Beobachtung: Die Leute wachsen auch mit der eigenen Arbeit mit.“ Was – ach ja, das muss unbedingt gesagt werden – noch zu einem anderen, wichtigen Punkt führt: Der Stadt Leipzig an sich. Oder besser gesagt der rasanten Entwicklung, die sie hingelegt hatte in den letzten 15, ach ne 16 Jahren. Da – so sind sich die Beiden einig und dies auch mit einem gewissen Stolz – habe man sich gewiss gegenseitig ein wenig angeschoben.

Jetzt geht der Blick nach vorn, selbst über den Showcase vom 3. bis 6 Juni hinaus – wobei man auch da jede Menge noch sagen könnte – zum Beispiel, dass sich Stefan Wenzel auf die (endlich im siebten Anlauf avisierte!) Premiere von „Der Reigen. Ein überaus schönes Lied vom Tod“ freuen kann, gemeinsam mit Charlotte Wilde, die mit „Micro“ sogar noch eine zweite Premiere im Programm hat. Ein bisschen geht es auch um den Plan für die nächsten 15 oder 16 Jahre. Um das Konzept, um die Visionen – aber davon lässt man laut Charlotte Wilde nach wie vor lieber die Finger. Man übt sich eher am permanenten Selbst-Hinterfragen. Über den künftigen Spielplan werde man sicher noch mal im Team diskutieren, keine Frage. „Und mit Michael (Michael Vogel, der Ensemble-Partner von Charlotte Wilde) haben wir jemanden, der unglaublich damit nerven kann, uns bloß nicht auszuruhen“, erzählt sie und Stefan Wenzel ergänzt: „So etwas hilft im Leben und in der Kunst.“ Jens Wagner

Der „Showcase Westflügel“ findet vom 3. bis 6. Juni 2021 statt – sowohl im Westflügel als auch Open-Air; geplant sind neun verschiedene Aufführungen, Konzerte und Filme. Alles Wissenswerte findet man im Internet unter www.westfluegel.de.

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