
Ein ungewohnter Menschenauflauf war vor wenigen Tagen im Gartengrundstück der evangelischen Pfarrkirche in Otterwisch zu beobachten. Doch nicht die Kirchgemeinde hatte eingeladen, sondern Otterwischs sogenannter Storchenvater Klaus Döge. Der rüstige Senior betreut seit einigen Jahren das Brutvogelgeschehen in und an der Kirche des Ortes.
Und Vogelliebhaber und Naturinteressierte können selbiges bei Weißstorch, Dohle oder Turmfalke live über eingebaute Videokameras mit verfolgen. Besonderes Augenmerk gilt freilich immer Meister Adebar, der auf dem Kirchendach alle Jahre wieder seinen Nachwuchs ausbrütet und großzieht. Dank Kameraüberwachung wissen die Storchenexperten um Regionalbetreuer Uwe Seidel und Vogelberinger Bernd Holfter immer, wann der richtige Zeitpunkt zum Anbringen der Ringe ist.
Dorfbewohner schauen bei dem Spektakel zu
Neulich war es wieder soweit und viele Dorfbewohner von Jung bis Alt waren zu dem Spektakel gekommen. „Gerade wenn die Kinder so etwas mal hautnah miterleben dürfen, wird deren Begeisterung für die Tierwelt vermutlich mehr gefördert. Außerdem vergeben wir auch Patenschaften und mit den geringen finanziellen Einnahmen kann ich dann die Kameratechnik funktionstüchtig halten“, verrät Döge, der in Sichtweite zur Kirche wohnt.

Derweil kommt Dachdecker und Storchenfreund Uli Seidel aus Althen mit dem von ihm gesponsorten Hubsteiger ins Kirchengelände gefahren. Schließlich müssen die Vogelkenner hoch hinaus, um die halbwüchsigen Storchenkinder vom Dach auf den Boden im Kirchengarten zu bringen. Diesen Job übernimmt Beringer Bernd Holfter aus Grimma. Seit 1977 zieht er verschiedenen Vogelarten seine Ringe auf und trägt damit seit Jahrzehnten zu wissenschaftlichen Erkenntnissen der heimischen Vogelwelt bei. Neben den Störchen hat er sich auf Eulen und Greifvögel spezialisiert. Kennt auch alle Uhu-Nistplätze, die aber des Vogelschutzes wegen, geheim bleiben.
Unterschiede der beiden Fußringe
Beim Storch dagegen ist Aufmerksamkeit durchaus gewünscht. Und so erläutert Holfter den Anwesenden die Unterschiede der beiden Fußringe. Der silberne Aluring ist der eigentliche Ausweis des Tieres, die gelben Plastikringe mit deutlich schwarzer Schrift dienen der Erkennung der Vögel auch aus größerer Entfernung mit Fernglas oder Teleobjektiven. Beim Beringen, das überwiegend gleich oben auf den Horsten erfolgt, kann der Fachmann immer wieder kuriose Entdeckungen machen. Letzte Woche fand er eine Schleifscheibe im Nest. Es gibt also nicht nur diebische Elstern.
„Wirklich schlimm hingegen sind irgendwelche Bindegarne, die die Eltern einschleppen. Die wachsen manchmal in die Storchenbeine ein oder es kam auch schon zu Strangulationen. Auch Gummiringe stellen für die Jungstörche ein Problem dar. Sie werden wie Regenwürmer heruntergeschluckt und sorgen dann beim Nachwuchs für Darm- oder Magenverschlüsse.“
Diese Sorgen kennt Uwe Seidel zuhauf. Doch er ist eher der Meister der Zahlen. Kennt wohl jeden Horst im Regierungsbezirk Leipzig. Für viele hat er zudem selbst die stabile Unterlage gebaut. Befragt nach den aktuellen Erkenntnissen von diesem Jahr betont der Kleinbothener: „Wir haben in unserem ehemaligen Muldentalkreis dieses Jahr zwar mehr besetzte Horste, aber dennoch weniger Jungvögel.“
Trockenheit und Kälte im April
Das liege an der Trockenheit und Kälte im April. „Außerdem haben wir auch kein gutes Mäusejahr.“ Die Vögel, deutlicher noch die Eulen, haben das im Gespür und legen dann gleich weniger Eier. „Ist ja auch kein Wunder, wenn immer wieder Futterflächen durch betonierte Industriegebiete verschwinden“, klagt Seidel und hat damit eine ganze Schar von Ornithologen hinter sich. Natürlich wechseln die Besatzungen der Storchennester auch immer mal wieder, was anhand der Erkennungsringe gut nachvollziehbar ist.

So brüten im Muldental geschlüpfte Störche heute in Polen, Tschechien oder Ungarn. Außerdem gibt es auch immer wieder Verluste bei dem anstrengenden Zug in und aus den Winterquartieren. Dafür haben wir Zuzug aus Süddeutschland oder auch Niedersachsen. Nur durchschnittlich acht Jahre werden die Vögel alt. „Ausnahmen gibt es immer. Unser ältester Storch wurde 29 Jahre und hat viele Jahre erfolgreich in Süptitz bei Torgau für Nachwuchs gesorgt.“ Zumal Meister Adebar im Normalfall erst im dritten Lebensjahr geschlechtsreif ist.
Die Otterwischer Storchenkinder sind nach Beringung und zahlreichen Streicheleinheiten derweil wieder auf dem Weg zum Kirchendach. Dort setzt sie Bernd Holfter behutsam in ihre „Wohnung“ zurück und wird dabei aus einiger Entfernung von einem Elternvogel beobachtet. Vögel haben keinen Geruchssinn und lassen derlei kurzzeitige Störungen problemlos über sich ergehen. Und so dauerte es auch bloß einige Minuten, nachdem wieder Ruhe auf dem Gelände eingezogen war – und der erste Elternstorch landete wieder in gewohnter Manier auf seiner Brutstätte. Thomas Kube