Verena Keßler auf Calisthenics-Gelände im Clara-Zetkin-Park in Leipzig
Verena Keßler auf dem Calisthenics-Gelände im Clara-Zetkin Park in Leipzig: In ihrem Roman „Gym“ geht es um Ehrgeiz, Lügen und Leistungsdruck. Foto: Wolfgang Sens

Sie steht im „Mega-Gym” hinter dem Tresen, verkauft Proteinshakes und trainiert selbst immer öfter und länger an der Hantelbank. Die Protagonistin von Verena Keßlers Roman „Gym” wird nach und nach Teil dieser Fitnesswelt, taucht immer tiefer ein – und eskaliert schließlich darin. Es sind verschiedene Themen, die die Leipziger Autorin in ihrem inzwischen dritten Roman verhandelt: das Streben nach Zugehörigkeit, unaufhörlicher Leistungsdruck, perfekte Körperbilder.

Die Autorin kennt die Welt des Fitnesstudios, die sie im Buch zwar überzeichnet, die aber in ihren Grundzügen genau so existiert. „Gym” entstand, als Keßler an einem anderen Text schrieb, bei dem sie nicht weiterkam. Mittags ging sie ins Fitnessstudio. Dort kam ihr die Idee, ihre Handlung in dieses neue Setting zu verlagern. „Ich fand es interessant, dass es so eine abgeschlossene Welt ist, in der Menschen aufeinander treffen, ohne viel voneinander zu wissen.”

Bodybuilderin erklärt Trainingsmethoden

Die Hauptfigur „wanderte“ also in die Welt des Fitnessstudios. Das funktionierte, denn das Thema des alten Textes ähnelte dem des neuen: In beiden geht es um Ehrgeiz, Erfolg und Leistung. Während Keßler in ihrem realen Gym trainierte, beobachtete sie Szenen, die teils Eingang ins Buch fanden. Außerdem ließ sie sich von einer Bodybuilderin deren Trainings- und Ernährungsplan erklären.

Und wie viel der Ich-Figur steckt in Verena Keßler selbst? „Ich bin noch nie gewalttätig geworden“, sagt sie bezugnehmend auf eine Szene im Buch und lacht. Ihre Hauptfigur entwickele einen krankhaften Ehrgeiz und strebe extrem nach Anerkennung. „Sie ist keine sympathische Figur.” Das Spannende am Schreiben sei ja: „Man kann kleine Teile von sich nehmen und diese größer machen, indem man sie einer Figur gibt.” So sei das Buch eine Art Testballon: Wie sieht es aus, wenn ein bestimmter Charakterzug nicht gebremst wird? Keßler gibt zu, dass es Spaß gemacht habe, die Hauptfigur immer weiter eskalieren zu lassen. „Sie ist nach und nach ekliger und gewalttätiger geworden.”

Gleichzeitig könne die Protagonistin dem Leser auch leidtun, weil sie in ihren Zwängen so gefangen sei. „Sie versucht sich in dem System zu behaupten, indem sie andere zu Opfern macht.” So sei die Ich-Erzählerin aus ihrer Sicht vor allem auf ihren eigenen Vorteil bedacht, wolle unbedingt vorankommen. Verena Keßler sagt, es sei für sie etwas Neues gewesen, so zu schreiben. In ihren beiden vorherigen Romanen ist „niemand so zu Schaden gekommen”. Doch die 37-Jährige will immer wieder etwas Neues ausprobieren und sich nicht auf einen Stil festlegen.

„Ich wollte immer schon mal eine Geschichte aus der Perspektive einer Figur erzählen, die lügt.”

Der Ort, an dem sie ihre Handlung spielen lässt, sei dabei eine Metapher für unsere Gesellschaft. „Im Fitnessstudio geht es ganz viel um Leistung, um sich vergleichen und Selbstoptimierung.” Das sei auf die Gesellschaft als ganze übertragbar, findet die Autorin.

Und dann ist da noch die Anfangslüge der Protagonistin: Sie behauptet, sie habe vor wenigen Wochen ein Baby bekommen. Damit rechtfertigt sie ihren unfitten Körper. „Ich wollte immer schon mal eine Geschichte aus der Perspektive einer Figur erzählen, die lügt”, sagt Keßler.

Während ihr erster Roman „Die Gespenster in Demmin” ein historisches Thema behandelt und ihr zweites Werk „Eva” das Thema Mutterschaft aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet, geht es diesmal um Körperbilder und ungebremsten Ehrgeiz. „Ich habe nicht ein Lebensthema, ich gucke, was mich interessiert”, erklärt Keßler die Verschiedenheit der Bücher. Woher sie Inspirationen für einen neuen Roman nimmt, sei schwer zu sagen und eher dem Zufall überlassen. „Ideen kommen mir oft, wenn ich Langeweile habe und die Gedanken schweifen lasse, zum Beispiel im Zug.“

Verena Keßler ist ein Morgenmensch

Seit zwei Jahren lebt die Wahl-Leipzigerin von der Schriftstellerei. Das Schreiben ist für sie dabei mehr als ein Broterwerb. „Es ist eine Arbeit, die ich auch machen würde, wenn man mir kein Geld dafür geben würde.” ­Keßler verrät, dass sie ein Morgenmensch ist, der gern vormittags am Schreibtisch sitzt, noch bevor sie Nachrichten schaut. Heute etwa sei sie 6 Uhr morgens aufgestanden, sie stellt sich keinen Wecker. Rückt die Abgabe eines Textes näher, sitzt die Autorin auch mal acht, neun Stunden am Rechner. „Dann bin ich auch nicht mehr so gut darin, Pausen zu nehmen.” Dafür gebe es zwischen den Romanen stets eine Erholungsphase.

Jetzt im Herbst ist eine deutschlandweite Lesereise geplant. Während bei „Eva” vor allem Frauen im Publikum saßen, spricht das Thema Fitnessstudio offenbar beide Geschlechter an. „Es sind plötzlich wieder viel mehr Männer auf meinen Lesungen.”

Kurzgeschichten und Tiergedichte

Ihre Leidenschaft fürs Schreiben entdeckte Verena Keßler als Jugendliche. Sie wuchs in Hamburg auf, als zweitälteste von vier Schwestern. Der Vater arbeitete als Klempnermeister, die Mutter als Bürokauffrau. Keßler sagt, sie schrieb schon immer gern, vor allem freie Texte im Deutschunterricht. Nach dem Abitur arbeitete sie zunächst als Werbetexterin, schrieb Beiträge für Kunden, nichts Eigenes. Nebenher entstanden erste Kurzgeschichten und Tiergedichte, die sich reimen, erzählt sie und schmunzelt.

2016 wurde sie – nach zwei Absagen – am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig aufgenommen. Die Studierenden kritisierten ihre Texte gegenseitig. Sie lernte Überflüssiges aus einem Text zu streichen. Bis heute wirft sie gern mal ganze Passagen aus einem Roman. Schon als Werbetexterin wusste sie: „Sich kurz fassen, ist immer gut.” Vor allem den Kontakt zu ihren Kommilitonen empfand Keßler als bereichernd: „Ich kannte vorher niemanden, der geschrieben hat und mit dem man sich auf diese Art austauschen konnte”, sagt sie. „Ich bin dadurch in die Literaturwelt viel mehr eingetaucht.” Ohne das Studium hätte sie wahrscheinlich kein Buch veröffentlicht, glaubt sie. Bis heute ist sie mit einigen der ehemaligen Studenten gut befreundet, schätzt deren Meinung zu ihren Texten.

In ihrer Wahlheimat Leipzig fühlt sich Verena Keßler übrigens sehr wohl. Sie liest viel, geht gern spazieren, vor allem nach anstrengenden „Schreibtagen”. Ach ja – über ihr nächstes Projekt will sie noch nicht viel verraten. Nur so viel: „Es gibt eine lose Idee, an der ich viel herumprobiere.” Fest steht aktuell eigentlich nur eins: Die Protagonistin ist wieder eine Frau. Gina Apitz

Am 27. November liest Verena Keßler ab 19 Uhr in der Leipziger Stadtbibliothek aus ihrem Roman „Gym.” Der Eintritt ist frei.

Weitere Infos unter: www.verena-kessler.com

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